Die Basis des Make-Up

Die Basis des Make-Up

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Zeichnung (51) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Hamburg, 1976. Sich vollaufen lassen, abgefüllt werden, drei Stadien der Trunksucht: Nippen, Schlürfen, Binge drinking auf Nimmerwiedersehen. Exzeßhafte Nivellierung körpereigener und fremder Flüssigkeiten. Der innere Horizont, das 90-Grad-Kräfteverhältnis zwischen Horizont und Schwerkraft, nach innen gekehrt und nach außen gewendet. Im Lokal Zu den Vereinigten Aggregatzuständen, ein vergeistigtes Dasein als Kurz-Comic. To be transported: Als das Wesen einer Reise erschien mir die Ortsgebundenheit von Gedanken und in deren Folge die Möglichkeit ihrer Entwurzelung. Die Gedanken tauchten in der gleicher Geschwindigkeit auf, in der sie wieder ausgespuckt und fortgespült wurden, wie wandernde Wolken. Ich kann nicht packen, aber auch das war mir zunehmend egal. Anstatt zu packen, kaufte ich immer neue Koffer - alle in unterschiedlichen Größen. Hoffnungslos ernüchtert verstaute ich die Koffer dann ineinander wie die Puppen einer Matrjoschka und reiste ab. An jeder Grenze hinterließ ich einen der Koffer unter großen Verlustgefühlen beim Zoll." (Aus: The Travel Almanac Nr. 4, 2012).

(1976) 

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Zeichnung (42) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Eine grüne Gartenpforte GG in Achim in den 50er Jahren, von Halbstarken nachts in den Graben am Fuße des Bahndamms geworfen, an dem unser Haus stand. Zweimal am Tag raste der Fliegende Roland auf seiner Fahrt von und nach München vorbei und löste bei mir Fernweh aus. Wir spielten Ich erkläre den Krieg auf dem Sandweg vor dem Haus. Die beteiligten Länder, die wir Kinder vertraten, hießen Deutschland, USA, Frankreich und Russland. Josef von Sternberg begann mit seinen täglichen Besuchen. Er war ramponiert von einer Reise in die Südsee. Ratten waren über ihn hinweggelaufen - wie die Insekten in dem Auswandererquartier im Hamburger Hafen, das er in seiner Autobiographie Fun in a Chinese Laundry geschildert hat. Seine Rache gegenüber einer terroristischen Natur lebte er aus, indem er einen ihrer Dschungel in einer Turnhalle in Kyoto für seinen Film Anatahan künstlich nachbauen ließ und ihre grünen Blätter mit silberner Farbe überzog, damit sie auf Schwarzweiß-Film besser zur Wirkung kamen. Das leuchtete mir sofort ein." (Aus: arsenal, september 12).

(1975)

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Zeichnung (35) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Eine weiße und eine graue Garderobengarnitur aus einem Prospekt für Billigmöbel. Eine Gedenkfeier für den 1959 mit dem Flugzeug abgestürzten Buddy Holly auf einem Sofa in Achim, 1964. Es kommt zu einer unverzeihlichen Straftat: Ich zerschlage zu seinem Song Rave On mit einem Fang-den-Ball-Spiel eine der drei nicht ersetzbaren Glastüten der Deckenlampe im Wohnzimmer unserer Nachbarn. Verlegen spielen wir Paare, die nicht funktionieren. Der schwere Schatten eines unbegriffenen Ursprungs legt sich über die Szenerie - oder sind es die Umrisse der Reste eines von Ameisen auf der Suche nach nahrhaftem Klebstoff abgefressenen Flaschenetiketts? In Latenz und transparent über allem: Der junge Mann mit den ausufernden Brustwarzen, der sich so aufreizend das Hemd über den Kopf zieht, aus der damaligen Werbung für ein Solarium. Daß sich Zeiten nachträglich materiell ineinanderschieben lassen, in der Voraussicht aber keine Materie bieten, ist der Nährboden für extrapolierenden Sarkasmus. Die Welt lässt sich tatsächlich als Satz erkennen und begreifen." (Aus: Zeichnung oder Film, 2013).

(1984) 

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Zeichnung (34) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Die schwarze Garderobe. Im Closed-Circuit-TV ist das Abbild eines gerahmten Bildes an der Wand eines Zimmers am Eppendorf Marktplatz in Hamburg zu sehen, 1974, kurz vor meiner Abreise in die USA. Das Bild zeigt in Nahaufnahme ein Heftpflaster auf nackter Haut. Ein entschiedener Abgang in die Unentschiedenheit. Wer das eigene Opfer zu ernst nimmt, scheidet aus. Die drei Panoramen des Films Arrowplane - Wiese, Stadt und Strand - und ein zerschnittener Filmstreifen hängen an der Wand. Im Anschnitt zwei Leuchtkörper mit Stromkabeln. Diese Idylle wurde ergänzt durch das vom BKA veröffentliche Diagramm zum Hergang des Selbstmordes von Andreas Baader in seiner Stammheimer Zelle, das hier um eine Umdrehung seines Halses erweitert wurde. Der am Hinterkopf angesetzte Schuß bahnt sich, nachdem die Kugel von der inneren Schädeldecke, dem Kieferknochen und dem Gehörgang umgelenkt worden ist, durch die Augen der in der Hamburger Gänsemarkt-Passage mit den Füßen unter die Decke genagelten Gänse fort. Allen Verschwörungstheoretikern dieser Erde gewidmet." (Aus: Zeichnung oder Film, 2013).

(1984)

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Zeichnung (33) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Krude Landschaften, Abbruchkanten und das Bewußtsein, darin eingesponnen zu sein und nicht mehr daraus zu erwachen. Die Atomisierung meiner Gefühle, aus der sich kein qualitativ neues Element ergibt, hat ihre Logik. Ein Flug zu den Filmfestspielen in Edinburgh (BORO) mit dem Film Normalsatz Anfang der 80er Jahre. Ich hatte schon einmal 1965 auf dem Felsen, von dem sich dort traditionell die verzweifelt Verliebten stürzen, gesessen und einen Personenzug bei seiner Einfahrt in einen Tunnel unter einem Friedhof beobachtet. Ganz anders als bei Hitchcock. Bevor sich die Welt in Zucker, Fett und Kohlehydrate aufspaltete, wie hier an einem Schokoriegel exemplifiziert. Ich dachte an David Larchers Fahrt in eine Autofalle auf Martinique und das Emblem seines Lastwagens als Stempelabdruck. In der Projektion zerriß die Filmkopie dann genau in der Szene, in der meine Super-8-Kamera umkippte. Ich rutschte von der Bank, schlug mit dem Gesicht voran zu Boden und krieche seitdem in Spurenelementen herum." (Aus: The End, Disko 22, 2011).

(1983) 

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Zeichnung (32) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Fortsetzung zu August 2012: Ich starrte also im Sommer 1974 in der Bibliothek der SUNY Binghamton an die Decke und versuchte, mir die mouches volantes aus den Augen zu wischen und die Frage zu beantworten, was an 'Prominenz' noch zu analysieren sei, nachdem sie Karl Krauss in Die Fackel Nr. 890 als nimmermüden Quell für Null-Nachrichten geoutet hatte: Unter der Überschrift 'Max Reinhardt der Zugkatastrophe entronnen' konnte man erfahren, dass Reinhardt zu Weihnachten 1933 bei Lagny in Frankreich 'beinahe' das Opfer einer Zugkatastrophe geworden wäre. 1993 gab der Publizist der Gruppe Frankie Goes To Hollywood die gebührende Antwort: Holly Johnson, der Sänger der Band, war 'nicht' bei dem Anschlag auf  Pan Am Flug 103 über Lockerbie ums Leben gekommen, weil er den Flug verpasst hatte. Das war ungefähr so sensationell lustig, wie wenn Westberliner Edelfedern mit hergesucht gedrechselten Petitessen und verschroben hintersinnigen Pretiösitäten eine Filmgeschichtsschreibung zu verfeinern suchten, die es gar nicht gibt." (Aus: arsenal, juli/august 2013).

(1974)

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Zeichnung (31) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Mouches volantes vor zwei Fenstern der Bibliothek der State University of New York in Binghamton, 1974. Bei fast geschlossenen Pupillen, in großer Helligkeit, rückt die Oberfläche des Augapfels und die darauf oder im Glaskörper selbst schwimmenden oder schwebenden Kleinteile und ihre Schatten in die Erkennbarkeit. Das Sehen bezieht sich auf sich selbst, das Auge wird selbstreflexiv. Hermann von Helmholtz hat sie zuerst beschrieben. Ich saß im Max Reinhardt Archive und ekelte mich vor meiner Recherche. Und endlich Warum die Fackel nicht erscheint von Karl Kraus in Die Fackel Nr. 890-905 gelesen, Ende Juli 1934 auf 315 Seiten erschienen, der beste Aufsatz in deutscher Sprache, den ich je gelesen habe. Zuvor noch die vierseitige Die Fackel Nr. 888 mit Kraus' Rede am Grab von Adolf Loos vom 25. August 1933 und seinem Gedicht "Man frage nicht, was all die Zeit ich machte", das mit Häme zu überziehen, sich die journalistischen Zuarbeiter des Grauens nicht nehmen ließen. Und damit das Kapitel "Reinhardt" abgeschlossen." (Aus: arsenal, juli/august 2012).

(1974) 

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Zeichnung (30) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Kleine Enzyklopädie meiner Armbrüche: Als 11jähriger habe ich mir beim Sprung über ein Zelt den rechten Unterarm gebrochen. Der komplizierte Bruch wurde genagelt. Ich durfte monatelang nicht am Turnunterricht teilnehmen, den ich eh haßte. Viele Nazis, die nach dem Krieg von Deutsch- zu Turnlehrern degradiert worden  waren, wirkten dort weiter. Als 12jähriger fiel ich vom Fahrrad, erneuter Armbruch, also wieder Befreiung vom Sportunterricht. Als 13jähriger wurde ich von einem Fahrrad überfahren. Man ließ den gebrochenen Knochen samt verbogenem Silbernagel schief anwachsen. Als 14jähriger wurde mir die Elle künstlich gebrochen, um den Nagel zu entfernen und den Arm zu richten. Ich durfte weiter auf der Matte liegen und rauchte inzwischen Zigaretten. Quintessenz: Unbewußt herbeigeführte Armbrüche aus Angst vor Sport lehrenden Nazis, dazu suchterzeugende Erfahrungen mit der Ausschüttung körpereigener Opiate bei Knochenbrüchen. Daher auch das Opiumzelt." (Aus: arsenal, januar 09).

(1984) 

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Zeichnung (29) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"(Possible) Material, mögliches Material. Die Windungen der Weser zwischen der Horstedter Fähre und der Brücke bei Uesen südlich von Bremen. Ein Duschkopf, aus dem Sand rieselt, kreuzt sich mit einem Förderband für Sand. Titel der Rollbilder im Hintergrund: Sandberge und Fensterfluchten. Im benachbarten Dorf Bierden gab es Dünen, deren Sand nach dem II. Weltkrieg beim Wiederaufbau von Bremen in den Hochhäusern der Wohnsiedlung Neue Vahr verbaut wurde. Ein auf der Flucht in die Freistadt Bremen im Sand bei Achim von Kopfgeldjägern gestellter Leibeigener wollte sagen: 'Ach, im Sande muß ich sterben', kam aber nur bis 'Ach, im', bevor er geköpft wurde. Daher der Name. Und die Vorliebe für halbe Sätze. Der Überseedampfer Bremen aus einer Kinderzeichnung mit einer Haifischflosse vor Manhattan. Wochenlanger Streit mit meiner Schwester, die behauptete, es gäbe keine Haifische vor der amerikanischen Küste. Ich konnte die Abbildung, die mir als Beweis dienen sollte, im Bertelsmann Volkslexikon von 1956 nicht wiederfinden." (Aus: flypaper #5, 2010).

(1983) 

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