Die Basis des Make-Up

Die Basis des Make-Up

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Zeichnung (234) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Reste der 6. Deutschen Armee bei Stalingrad auf dem Weg in die Gefangenschaft, eine kilometerlange Schlange durch den Schnee. Vierzehn Füße in Wollsocken, die sich am Feuer eines offenen Kamins wärmen. Das kollektive Strümpfestricken für Frontsoldaten sollte verschleiern, dass man sich schon längst an den Möbeln, der Bekleidung und den Haaren der in den KZs Ermordeten gütlich getan hatte. Als Gegenpol ein gußeiserner Heizkörper aus der Nachkriegszeit. Eine Schulmeisterin im Oskar-Schlemmer-Look beherrscht die Szenerie, die Karikatur einer Domina. Sie küsst die Spitze eines Zeigestabs oder Prügelstocks aus Holz und soll hier nicht 'zum Nachdenken anregen', sondern zum Lachen. Über dem Höllenfeuer schwebt eine Armmanschette aus Leder, die mit Nieten in der Formation des Sternbilds Großer Wagen besetzt ist. Elfi Mikesch hat sie mir 1981 vor den Dreharbeiten zu ihrem Film Macumba für meinen bruchgefährdeten, rechten Unterarm anfertigen lassen - zur Zeit der Fertigstellung von Normalsatz, zehn Jahre vor Der Zynische Körper." (Aus: Black Blocks, Cinema Scope #46, 2011). 

(1983) 

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Zeichnung (233) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Leonid Iljitsch Breschnew Ende der 70er Jahre in seinem Situation Room im Kreml vor zwei laufenden Fernsehprogrammen. Noch keine Anzeichen von Reizüberflutung oder gar Gemüsedasein. Ein von Osten hereinfallender Set von Küchenmessern samt Fleischgabel, Hackbeil und Wetzstahl. Der Knebelverschluß einer Existentialisten-Kutte aus den 60er Jahren verknüpft den Handgriff eines Messers mit dessen Schatten auf dem Gesicht von Magdalena Montezuma im Film Macumba von Elfi Mikesch, 1982. David Marc druckte die Zeichnung 1995 in seinem Buch Bonfire of the Humanities (Scheiterhaufen der Geisteswissenschaften) mit der Unterschrift ab: 'The best minds of Allen Ginsberg's generation were still accusing the radio of hypnotism in 1955'. Diese Klage über selbstgerechte, intellektuelle Shortcomings könnte heute fortgesetzt werden mit 'The best minds of Hape Kerkeling's generation will never get the difference between 35mm film and digital video.' A rather 'b'schssne Sit'ation!' - but who cares. Praxis leidet ja nicht von Natur aus unter Theoriebedarf." (From: Black Blocks, Cinema Scope # 46, 2011).

 (1984)

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Zeichnung (232) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Europa im Zugriff eines eisernen Handschuhs. Vierzehn nach Westen aus dem Bild driftende silberne Löffel und in Gegenrichtung aus Richtung Amerika eine langstielige Gartenharke, die an der Stirn meines Vaters kratzt. Die Hand aus Eisen, die Europa in der Klaue trägt, war für die Fachzeitschrift der US Marines das Sinnbild für Bolschewismus. Wer greift hier wie nach wem? Das Bemühen, persönliche Schuld und Sühne in diesem weltgeschichtlichen Reigen, in den man hineingeboren wurde, zu verankern, wurde zu einem utopischen Unterfangen. Klar war nur Eines: Das 'Wunder' im Wort Wirtschaftswunder waren nicht die Wirtschaft, nach deren Logik die Zerstörung noch immer die beste Voraussetzung für ein Wiedererstarken ist, sondern die Seelen der Überlebenden, die ungerührt weiterhin wirtschaftlich tätig sein konnten. Das Wort ist die Feier der Kälte des Überlebens, die dann an uns Kinder weitergereicht wurde. Diese Kette zu durchbrechen, gilt als Verbrechen an einer 'Natur', auf die sich auch schon die Nazis ihren abscheulichen Reim gemacht hatten." (Aus: Black Blocks, Cinema Scope #46, 2011).

(1984) 

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Zeichnung (231) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Vierunddreißig weitere Notizhefte stürzen aus dem Inneren eines kopfüber fliegenden Passagierflugzeuges, dem ein Teil seines Daches weggerissen ist. Ein spanischer Bauer - von Georg Riesner und Hans Namuth 1936 fotografiert - rührt mit einer Holzgabel im Loch des Flugzeugrumpfes. Ich sitze Anfang 1974 vor dem Gerippe eines Walfisches im Senckenberg Museum in Frankfurt auf einer langen Bank und stütze den Kopf mit der linken Hand auf. Silke Grossmann hat das fotografiert. Die Umrisse des Wales wurden in der Ausstellung zum besseren Verständnis des Betrachters in Relation zu seinem Skelett gesetzt. Ein vom Bildrand halbierter Knochenmann schüttet mir einen Krug Wasser auf den Kopf. Die Folter der Geschichte, die die Einzelnen ins Nichts entlässt. Eine militarisierte Religiösität. Ein Wissen, das nagt. Eine angerührte Saite, ein herausgekitzeltes Etwas. Zu minimal der Zeitraum, in dem bisher gesendet und empfangen wurde. Die Fülle der Interpretationen von Bakterien zerfressen, verloren in Zeitfenstern, die nicht offengehalten werden konnten." (Aus: Black Blocks, Cinema Scope #46, 2011).

(1997) 

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Zeichnung (230) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Ein Mosaik aus Pompeji, der Knochenmann als Mundschenk, ein Wasserträger, der ein Grab auffüllt. Als mehrere Meter hohe Wandzeichnung war er 1989 der Auftakt meiner Ausstellung Die Erschöpfung in der Kunsthalle Bremerhaven. In vier Zeilen aufgereiht die ersten achtunddreißig meiner Notizhefte seit 1974. Die eigene Stirn mit struppigen Haaren vor einer gefliesten Wand auf der Einladungskarte zur Ausstellung Seit ich blond bin, färbe ich mir die Haare in der XPO Galerie, Hamburg 1989. Der Pfeil, der den Boden des mit Wasser ausgefüllten Grabes als menschliche Silhouette beschreibt, weist in den Kopf des Jungen, der sich nackt aus einem Fenster beugt und dem Gerippe einen Stinkefinger zeigt. In Bremerhaven fotografiert und anonym zugeschickt bekommen von einem Fan. Es war heiß und staubig. Wir trotteten nach der Besichtigung der Bronzeskulptur Die Auswanderer von Frank Varga, die hinter dem Deich im Sand versank, ins Aladin Kino an der Rickmersstraße zur Preview des Films Der Zynische Körper, mit dem meine Firma danach pleite ging." (Aus: Black Blocks, Cinema Scope #46, 2011).

(1997) 

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Zeichnung (223) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Eine von Milliarden von Nervenfasern, nach einer Illustration von Fritz Kahn, dem terrible simplificateur, und eine Blutlache, zerteilt von der Bugwelle eines Schmetterlingsschwimmers mit Geheimratsecken -  "Ich komme!", coming of AGE. Ein vereinzeltes Boteh-Ornament fällt im Zuge einer Tropfenfolter auf das Haar eines schwarzen Delinquenten, dessen Kopf mit einer hölzernen Halsgeige fixiert worden ist. Seine Zunge wurde auf die Auskragung des Prangers genagelt. Am anderen Ende des Bretts ein Feuerrad, in dem Sprache durchbuchstabiert wird, A-LA-LANGUE. Auch als Sprechblase zu sehen. Die Symmetrie zwischen andauernder Folter und ausgerasteter Sprache als verdrängte Realität, die in einem Telefongekritzel ihr Haupt erhebt - ein vom Unterbewussten bevorzugtes Medium. Der untere Teil des Bildes ist die akribische Übertragung eines solchen Doodles von 1996. Der Weiße mit seiner ausholenden Umarmungstaktik und der Schwarze mit der verheerenden Keule am Kopf - die herkömmliche irdische Balance. Sie geht auf die Nerven." (Aus: arsenal, februar 12).

(1996)

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Zeichnung (222) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Der Start eines Marschflugkörpers in einer fernen Landschaft unter einem Riesengehirn, das den Himmel fast vollständig bedeckt. Schwarze und weiße Explosionswolken vor dessen grauen Zellen. Wie irre, diese zerschneiden, plastinieren und öffentlich ausstellen zu wollen. Geht alles auf den toten Hasen zurück, den Joseph Beuys als Handpuppe vorführen meinte zu müssen. Der Tiefpunkt einer Karriere, von Imitatoren immer wieder gern nachgespielt. Oder die täglich frischgeschlachteten Kaninchen, in deren noch warme Kadaver der spätere Mörder meiner beiden Großväter, Wilhelm II, seinen missgebildeten linken Arm badete. Zwei langbeinige Teenager springen von Rücken zu Rücken einer Herde chinesischer Wasserbüffel, die geduldig auf einer überschwemmten Weide stehen. Die Luft ist so glasig und verdreckt wie das Wasser. Unten rechts der Anschnitt einer Parallelwelt, die zur Abwechslung nicht mit Waffen- und Schnitttechniken brilliert, sondern mit der Schönheit ihrer unsichtbaren, sterblichen Schaltungen. Alles nicht im Bild." (Aus: arsenal, november 11).

(2007) 

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Zeichnung (221) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Ein zerrissener Vorhang aus schwarzem Wasser, darunter ein Bergsteiger aus den 30er Jahren, der einen Kamin zwischen zwei Gehirnhälften und zwei skulptural ausgeformten Schattenteilen emporklettert. Der Mann stemmt die Schatten- und Gehirnteile mit seinen Händen und Füßen auseinander. Zwischen seinen Beinen tut sich ein Abgrund auf. Eine gescheiterte Zukunft aus Balanceakten zwischen regelmäßig stattfindenden blutigen Operetten. Eine schwachsinnig proklamierte und hingenommene Trennung von Kopf und Bauch. Der Blick des Kletterers fällt auf den Schattenmann aus Edward Hoppers programmatischer Radierung Night Shadows von 1921. Rechts unten Passanten mit ihren Schatten aus Alexander Rodtchenkos Fotografie Sammlung zur Demonstration auf dem Hinterhof der Vchutemas, Moskau 1928, von einem Balkon aus gesehen. Dazwischen in hochkantigen Rechtecken drei Varianten eines Baumzweiges aus Ando Hiroshiges Holzschnitt Moon Pine at Veno von 1858. Freigestellte Gehirne als Ursuppe der Künste, keine Revolution, aber eine Umwälzung." (Aus: arsenal, oktober 12).

(2007) 

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Zeichnung (219) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Unerkannte Nägel in den Köpfen, das spiralförmige Verlassen einer westlich geprägten Vorstellung von Leben: Am Ende des Romans Let It Come Down von Paul Bowles drückt der Amerikaner Nelson Dyar nach seiner Flucht aus der Internationalen Zone Tangers seinem einheimischen Führer Thami Beidaouis im Majoun-Rausch einen Nagel durch den Gehörgang ins Gehirn. Von außen ist nur ein Rinnsal von Blut sichtbar - unscheinbar, aber beredt. In den verschiedenen Regionen des Gehirns der Mörder als Akrobat, Ringer und Schiedsrichter. Du bist gut gewachsen, mein Freund, aber Dein Leben ist so sinnlos in der westlichen Welt. Der Mord als letzter Ausweg, um mit der Welt der Polizisten in Kontakt zu treten. Noch kannte man es nicht, das Universum des deutschen Fernsehens, in dem Abend für Abend sozialdemokratische Kommissarsduos die Welt erklären. Noch stand die Quality of Life in keinem Parteiprogramm. Ich bin krank, also bin ich, resümiert ein redseliger Kulturwissenschaftler.  Mit anderen Worten: Augen sind Zeitgenossen der Zähne." (Aus: arsenal, dezember 12).

(1994) 

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Zeichnung (210) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Lips, Meaning, Speculation, Personality, Dead und Statements sind die jeweils letzten Wörter der aus sechs Sätzen bestehenden englischen Übersetzung des Prosagedichtes Le Démon de l´Analogie von Stéphane Mallarmé. Am Drehort des Films Demon im Hamburger Zippelhaus 1977 an die Wand geschrieben dienten sie es als Stichwörter für die Bewegungen der Darsteller. Die Handschaufel war Prop in dem Film. Der Dampfheizungskörper mit Steinplatte stammt aus demselben Zimmer. Darauf ein Ensemble aus Marmorbriefbeschwerer und Plastikbäumchen samt Schatten, als Hommage an Arnold Böcklins Toteninsel. Hinten die Brust des Bronzemannes, der wie ein Kraulschwimmer aus dem Grabstein für Georges Rodenbach, einem Freund Mallarmés, auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris emporsteigt. In den Grabstein eingemeißelt sein Satz: 'Herr, gib mir die Hoffnung, fortzuleben in der melancholischen Ewigkeit des Buches'. Zwei letzte Streichhölzer in einem Heftchen mit Reibefläche." (Aus: arsenal, juli august 2009).

(1993) 

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