Die Basis des Make-Up

Die Basis des Make-Up

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Zeichnung (111) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Hamburg, 1983, ich erinnere mich genau: Der Score zum Film Schenec-Tady III in einem Bilderrahmen an der Wand eines trüben Zimmers im Frühjahr 1974. Aufbruchstimmung, eine Pyramide aus Stäben über einem Acker, den ein Dampfschiff durchkreuzt, ein Tipi-Zelt aus dreckiger Bettwäsche in Gedenken an die Triole Eisenstein-Sternberg-Dietrich 1930 in Hollywood, schwarze Lederfetzen an der Wand und negativ auf der Haut eines nackten Maori-Kriegers, der zum Schleudern seines Wurfspießes ansetzt. Eine ausgesprochene Abneigung gegen eine zentrale Perspektive. Große Leerstellenbesetzung in der BRD-Kultur, Null folgt auf Null. Dagegen ein verzweifelter Eklektizismus als letzte Waffe der Selbstbehauptung, die ganze Strecke zwischen Ein Schiff wird kommen, und das bringt mir den Einen bis hin zu Und das Schiff mit acht Segeln und mit fünfzig Kanonen wird entschwinden mit mir. Komme gerade nachts von einer polizeilichen Gegenüberstellung aus St. Pauli zurück, bei der mein Klappmesser in der Hosentasche nicht entdeckt worden ist." (Aus: The End, Disko 22, 2011).

(1983) 

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Zeichnung (102) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Das Modell einer Nervenzelle, aufsteigend aus einem Sarg, den zwei Träger aus einem Fahrzeug heben. Anschnitte des arabischen Ornaments Akanthus in der Nervenzelle und im Fenster des Leichenwagens. Im Kern der Zelle der nackte Leib meines Vaters im Zweiten Weltkrieg, in Polen oder Rußland fotografiert. Unten seine von mir durchgestrichene Beschriftung eines Sammelordners für die von ihm abonnierte Zeitschrift Der Garten als Jungborn. Wer das Privileg genießt, im Frieden zu sterben, hat die Zeit, zuvor aus Wut über den bevorstehenden Tod den eigenen Garten zu zerstören. Hier aus dem Boden gerissene und dem Garten entfernte Bäume: Eiche, Weide, Buche und Birke. Josef von Sternberg und Frieda Grafe 1969 auf dem Münchener Flughafen Riem während seiner letzten Europareise. Er hat schon das Flugticket in der Hand. Freundschaft bedeutet, in Gedanken und Tun ernstgenommen zu werden, und mit beiden habe ich es erlebt, aktiv und passiv, bekannter- und unbekannterweise. Wir reden noch viel miteinander, das heißt, ich höre in mir ihre Stimmen." (Aus: Schwarze Blöcke, SchwarzHandPresse 2010).

(1997) 

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Zeichnung (79) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Potato Land, März 1995. Unterwegs in Ohio zu Sullivans Banken haben wir in New Bremen den Friedhof eines Konvents gefunden, auf dem evangelische Diakonissen mit deutschen Nachnamen begraben liegen. Viele sind am selben Tag, kurz vor der deutschen Kapitulation, im Mai 1945 gestorben; wahrscheinliche Diagnose: Kollektiver Selbstmord, Massenverzweiflung am Weltenlauf. Hätte es in den 1980er Jahren schon Facebook gegeben, wären die damals grassierenden garage suicides von US-Teenagern, die sich provokant in Garagen aufgehängt haben, organisiert aufgetreten und nicht als vereinzelte Beispiele einer Mode. Opferhandlungen, Drohgebärden und Märtyrertum sind den Religionen, mit denen wir uns herumschlagen müssen, als Instrumente der Sinngebung immanent. Eine in sich rotierende Selbstgerechtigkeit, die sich abergläubisch auf eine politische Wirkung verlässt. Hier ein bärtiger, christlicher Märtyrer am Strick, vor seinen Augen eine mit Kreuzen angefüllte Garage, und der nordamerikanische Kontinent übersät mit Galgen." (Aus: arsenal, mai 12).

(1988) 

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Zeichnung (78) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Einfache, gedoppelte und gestrichelte Linien, Pfeile und Kreuze, die die letzte Fahrt, den letzten Kampf und den Untergang des Schlachtschiffs Bismarck am 27. Mai 1941 kennzeichnen. 2104 zwischen seinen Stahlplatten eingeschlossene Männer zog das Wrack mit auf den Grund der Nordsee. Zwei an der Wand der Zwinger Galerie in Berlin aufgehängte Teile meiner Ausstellung Der Untergang der Bismarck von 1988, die den Fortbestand der Grundzüge der Bismarckschen Sozialgesetzgebung anzweifelte: das Viertel eines zersägten Schreibtisches aus der Zeit des Gelsenkirchener Barocks und eine Satellitenkarte vom Golf von Nantucket, der Heimat von Arthur Gordon Pym. In einer Versuchsanordnung müssen vier Kaninchen in Kisten eingesperrt bis zu ihrem Tod Zigaretten rauchen. Alles unter der Annahme, dass Tiere kein Bewusstsein haben. Der Dichter Christoph Derschau im Zustand der Erschöpfung am Ziel eines Marathonlaufes. Die '9' war die Zahl auf seinem Hemd. Er starb 1995 an den Folgen einer Lungeninfektion, die sich wie rasend unter den Läufern verbreitet hatte." (Aus: Schwarze Blöcke, SchwarzHandPresse 2010).

(1988) 

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Zeichnung (86) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Im Kreissegment am unteren Bildrand das Bild einer Menschenmasse am 1. August 1914, dem Tag nach der Mobilmachung zum Ersten Weltkrieg, auf dem Münchner Odeonsplatz - nach einer Fotografie von Heinrich Hoffmann, dem späteren Leibfotografen Adolf Hitlers. In der oberen, rechten Ecke die Vergrößerung des Ausschnitts daraus, auf dem Hoffmann 1931 den jubelnden Adolf Hitler entdeckte, den er 1914 noch nicht kannte. Von links unten nach rechts oben ein ausgekugeltes menschliches Gelenk. Von rechts unten nach rechts oben Spuren menschlicher Schritte. Es sind die einer Einheit französischer Fremdenlegionäre, die sich mit denen von Gary Cooper und Marlene Dietrich mischen - auf einer "Wanderdüne in der Sahara" in den Paramount Studios in Hollywood, 1930, bei den Dreharbeiten zu Morocco von Josef von Sternberg. In der Mitte eines Stadions am Boden hockend ein besiegter Fußballspieler, der sich sein Trikot über den Kopf gezogen und mit dieser Geste Melancholie als Höchstform männlicher Sexualität kongenial umgesetzt hat." (Aus: arsenal, november 11).

(1994) 

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Zeichnung (94) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Das tödliche Dreieck der Projektionen BA–AC–CB: A liebt B, B liebt C und C liebt A. Ein Ringelreihen aus dem Film Die Basis des Make-Up, mit John Erdman als Teppichhändler und Eckhard Rhode und Claus-Wilhelm Klinker, deren Gesichtsprofile hier das Bild durchkreuzen, als dessen Gehilfen. John Erdman deklamiert am Ende des Film neben einem Kotflügel mit dem Gesicht zu Boden liegend: 'Durch den Regen zeichnet sich ein vergrößertes Stück Straße ab, auf dem ich mit dem Gesicht zu liegen scheine. Die Lippen im Staub, aber regungslos, mit einem langsam schwindenden Bewusstsein. Nur Geräusche. Das einzige, was dem Laien wirklich bleibt, sind Ratlosigkeit und schlechte Zähne.' Auf der unteren Bildebene versinkt ein Tempel in den Steinplatten eines nordkoreanischen Platzes. Auf seinem Tympanon prangt das Wort LIBRA, für 'Pfund' oder 'Waage',  vielleicht aber auch für 'Bibliothek'. Für das ZDF war dieser Film 1985 der 'schlechteste, den wir je gesendet haben', für mich eine ziemlich gelungene und erfolgreiche Kontaktanzeige." (Aus: arsenal, mai 13).

(1996)

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Zeichnung (106) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Dieses Bild tut so, als habe Gott in der Mauer des Gesichts zwei Backsteine an Stelle der Augen weggelassen und davor über einem Eimer mit schwarzem Wasser ein Senkblei aufgehängt, um 90-Grad-Bildwinkelverhältnisse zu garantieren und den Kopf fest auf der Wirbelsäule zu verschrauben: Die Waagerechte sei ein Symbol für den Horizont und die Senkrechte eines für die Schwerkraft; Bildrahmen haben sich parallel danach auszurichten. Ein Stab mit stilisiertem Wasser wird zu einem Sägeblatt. Vor der Mauer läuft Tomas der Zweifler von El Greco mit einem rechten Winkel herum, der 92 Grad mißt. So kommen Symbole ins Schwimmen. Hinter der Mauer die erste im Film Arrowplane auftretende Landschaft, ein Wiesenhügel an einem Waldrand. Alle drei eingefügten Panoramen aus Arrowplane frönen einen jeweils eigenen Umgang mit der Horizontlinie. Der Wiesenhügel formt ihn zu einer Sinuskurve, die Stadt zerhackt ihn mit ihren Vertikalen und das Meer offeriert eine selbstidentische Linie, die die Steine am Ufer chaotisiert zurückläßt." (Aus: arsenal, juli august 11).

(1987) 

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Zeichnung (107) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Ein an ein Bretterkreuz genageltes Augenpaar von vorn und von hinten. Eine Wiese bei Horneburg aus dem Film Arrowplane mit einer Backsteinmauer als Himmel. Dazu eine Szene am Mönchsteich, das Blut, der Puls, die Blickabweichung, ein Zettel aus dem Sommer 1976: 'Heute zum ersten Mal den eigenen Herzschlag in den Augen gespürt, eine geringe rhythmische Veränderung des Blicks, die eine Arterie nahe des Augapfels erzeugt. Wir liegen mit halbgeöffneten Augen auf dem Rücken, schauen in den Himmel und sehen unter den Wimpern einen Teil seines dunklen Blaus. Über den Wimpern bilden die Augenlider Dias, deren Farbschichten aus frischem Blut bestehen. Die Sonne ist die Projektionslampe, unsere Netzhäute sind Projektionsflächen. Dazwischen die Linsen, die Diesseits und Jenseits trennen wie zwei Arten von Außen. Der Blick, wenn wir die Augen öffnen, läuft auf wechselnden Bahnen und kennt keine definierte Richtung. Nicht zu verwechseln mit dem Betrachten eines Films, in dem die tanzenden Grains dem Blick die Arbeit abnehmen.'" (Aus: arsenal, juli august 10).

(1987) 

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Zeichnung (72) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Creeping (Tactics) - Kriechtaktiken, aus einem Handbuch für Soldaten der US Marine-Infanterie. Operationsgebiet ist die Lobby eines Hotels aus den 50er Jahren mit Bar und Aufzugsbetrieb. Der Tresen ist seitlich mit Zebrafell verkleidet. Ein Gast lässt sich gefallen, dass ihm der Koffer aufs Zimmer getragen wird. Daß dem Nachkriegsdesign später ein Charme angedichtet wurde, ist für jeden, der Augen im Kopf hatte und die noch schwer zerstörten Städte täglich durchschreiten musste, ein Rätsel und eine Unverschämtheit zugleich. Der Begriff der Notwendigkeit erstreckte sich diktatorisch auf die psychische Kraft zum Überleben, die spielerischen Elemente der 50er Jahre-Architektur waren die reine Idiotie. Die Nazis sandten aufmunternde Postkarten aus dem sonnigen Südafrika oder Argentinien. Jedes Kind aber, das noch Gefühle im Leib hatte, lief mit Selbstmordgedanken herum. Noch heute zwingt mich der Anblick eines Nierentisches dazu, ihn mit einem Beil zu zerschlagen. In Manhattan haben wir das Ende der 70er Jahre im Film Normalsatz praktiziert." (Aus: Black Blocks, Cinema Scope #46, 2011).

(1978) 

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Zeichnung (71) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Syracuse, 11. Juni 1999. Abschluß der Verhandlungen mit der Syracuse University über die Duplizierung des dortigen Oral History of TV–Archivs. Zu befürchten ist, daß das hiesige Fernsehen in den nächsten Jahren in allen Programmteilen so arrogant selbstvergessen und zugleich provinz-narzißtisch selbstreferentiell agieren wird, daß unser Projekt scheitern könnte. Die Autorentheorie auf deutsche Fernsehproduzenten anzuwenden, ist tatsächlich kaum vorstellbar. Stattdessen gezapped: Ein pilgernder Kapuzenmann mit einem Holzkreuz auf der Schulter und einem Loch im ornamentierten, maßgeschneiderten Schuh, die Clintons auf einer Wahlveranstaltung am Ende eines roten Teppichs, eine vom Himmel fahrende Rolle Auslegeware, das Röntgenbild eines Lastwagens mit darin versteckten Kosovaren auf dem Zollamt von Calais. Ewige Kommissars-Duos an der Spitze unserer durchsubventionierten Schauspieler-Despotien: der auf den Punkt gebrachte Staat mit seinem heruntergebrochenen Volk." (Aus: arsenal, oktober 2009).

(1999) 

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