Zeichnung (429) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Creeping (Tactics) - Kriechtaktiken, aus einem Handbuch für Soldaten der US Marine-Infanterie. Operationsgebiet ist die Lobby eines Hotels aus den 50er Jahren mit Bar und Aufzugsbetrieb. Der Tresen ist seitlich mit Zebrafell verkleidet. Ein Gast lässt sich gefallen, dass ihm der Koffer aufs Zimmer getragen wird. Daß dem Nachkriegsdesign später ein Charme angedichtet wurde, ist für jeden, der Augen im Kopf hatte und die noch schwer zerstörten Städte täglich durchschreiten musste, ein Rätsel und eine Unverschämtheit zugleich. Der Begriff der Notwendigkeit erstreckte sich diktatorisch auf die psychische Kraft zum Überleben, die spielerischen Elemente der 50er Jahre-Architektur waren die reine Idiotie. Die Nazis sandten aufmunternde Postkarten aus dem sonnigen Südafrika oder Argentinien. Jedes Kind aber, das noch Gefühle im Leib hatte, lief mit Selbstmordgedanken herum. Noch heute zwingt mich der Anblick eines Nierentisches dazu, ihn mit einem Beil zu zerschlagen. In Manhattan haben wir das Ende der 70er Jahre im Film Normalsatz praktiziert." (Aus: Schwarze Blöcke, SchwarzHandPresse 2010).

(1978) 

Zeichnung (430) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"(Creeping) Tactics - Anschleichmethoden. Zielgebiet für die Übung der US Marines ist eine häusliche Szene im Westdeutschland der 50er Jahre. Konzentriertes Radiohören war der Ausweg aus der historischen Katastrophe und den diversen persönlichen Sackgassen. Die Programme der englischen und amerikanischen Okkupanten waren die Erlösung. Glenn Miller und Buddy Holly verbreiteten Trost und zarten Schmelz. National gestrickte Nachbarn bezichtigten mich der Kollaboration, als ich den hinter dem Bahndamm kampierenden, britischen Soldaten Birnen aus unserem Garten darreichte. In einen von ihnen, den seine Kameraden wegen seiner sehnigen Schlankheit Storky nannten und der bestimmt noch nicht 18 war, hatte ich mich als Dreizehnjähriger verliebt, und es gelang mir, ihn zu verführen. Später erzeugte das Zusammenspiel der Elektroguitarren der Rolling Stones in Minute 1:25 bis 1:53 ihres Songs It's All Over Now einen so starken kulturellen Ausdruck über die Geräusche der Fabrik, in der ich zu arbeiten hatte, dass ich beschloß, den Beruf zu wechseln." (Aus: Schwarze Blöcke, SchwarzHandPresse 2010).

(1978) 

Zeichnung (431) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Die verhüllte Gipsbüste der Eleonora Duse, genannt Das Verschleierte Zeugnis (VZ), in der 'Werkstatt' Gabriele d'Annunzios in seiner Villa am Gardasee. Lifestyle als Autobiographie, die trübe Suppe per se. Vier Zypressen auf dem Vittoriale, dem Gelände, auf dem er staatlich gesponsert sein Fashion Business betrieb. Die Duse erbricht den Inhalt einer Wärmflasche aus Gummi. Ein gestürzter Hirsch, der Schatten eines fallenden Engels, ein Hochspringer auf dem Scheitelpunkt. Dazu die Umrisse des Torpedobootes MAS 96, mit dem d'Annunzio 1918 Schiffe versenken wollte. Im 'Reliquienzimmer' der Villa das zerbrochene Steuerrad des Motorbootes, mit dem sein Vertrauter Sir Henry Segrave 1930 auf Lake Windermere einen Geschwindigkeitsrekordversuch unternahm, den er mit dem Leben bezahlte. Adolf Loos, ganz cool: 'Wenn wir im Walde einen Hügel finden, sechs Schuh lang und drei Schuh breit, mit der Schaufel pyramidenförmig aufgerichtet, dann werden wir ernst, und es sagt etwas in uns: Hier liegt jemand begraben. Das ist Architektur.'" (Aus: flypaper #5, 2010).

(1994) 

Zeichnung (432) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Montage ist das ausschlaggebende Merkmal der amerikanischen Pop-Kultur, schreibt David Marc. Und was ist mit der europäischen? Ein halb zu Seite gezogener Theatervorhang: Schwarzlicht fällt aus dem Schirm einer Designerlampe in das weit aufgerissene Auge eines Kaninchens. Davor als letzter Anblick die am Tor einer Garageneinfahrt auf dem Piazzale Loreto in Mailand an den Beinen aufgehängten und zur Schau gestellten Leichen von Benito Mussolini und Clara Petacci, Ende April 1945. Als kulturelles Begleitprogramm dient der Garten von Gabriele d'Annunzios Vittoriale mit dem zwischen Zypressen aus dem Berg ragenden Bug des Kreuzers Puglia. Alles muß, nichts kann. Erst Rauben, dann Vergraben. Grundvoraussetzung für jede Diktatorenlaufbahn ist es, sich von vornherein als Untoter zu empfinden, toter alle diejenigen, die man noch zu töten gedenkt. Ein Programm zur Verbreitung der eigenen Erlebnistiefe. Die 'Entschuldigungen' und 'Wiedergutmachungen' der überforderten Erben der Schreckensregime fußen auf demselben Prinzip." (Aus: flypaper #5, 2010).

(1993) 

Zeichnung (433) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Potato Land, März 1995. Unterwegs in Ohio zu Sullivans Banken haben wir in New Bremen den Friedhof eines Konvents gefunden, auf dem evangelische Diakonissen mit deutschen Nachnamen begraben liegen. Viele sind am selben Tag, kurz vor der deutschen Kapitulation, im Mai 1945 gestorben; wahrscheinliche Diagnose: Kollektiver Selbstmord, Massenverzweiflung am Weltenlauf. Hätte es in den 1980er Jahren schon Facebook gegeben, wären die damals grassierenden garage suicides von US-Teenagern, die sich provokant in Garagen aufgehängt haben, organisiert aufgetreten und nicht als vereinzelte Beispiele einer Mode. Opferhandlungen, Drohgebärden und Märtyrertum sind den Religionen, mit denen wir uns herumschlagen müssen, als Instrumente der Sinngebung immanent. Eine in sich rotierende Selbstgerechtigkeit, die sich abergläubisch auf eine politische Wirkung verlässt. Hier ein bärtiger, christlicher Märtyrer am Strick, vor seinen Augen eine mit Kreuzen angefüllte Garage, und der nordamerikanische Kontinent übersät mit Galgen." (Aus: arsenal, mai 12).

(1988) 

Zeichnung (434) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Die Rede vom ersten und letzten Wort. The Ridge, von der Sprache zurechtgerückt werden: SPRACHE auf dem Höhenzug einer Bergkette, TEXT auf den zerklüfteten Abhängen der Dolomiten. Schreibzwang: Das WOR-DT auf einer Sporttreppe, über dessen oberster Stufe ein Fötus an einer Absperrkette baumelt. Ein im Iran hingerichteter Mann hängt mit gefesselten Beinen und nackten Füßen hoch über dem Wald- und Wiesental einer Schweizer Berglandschaft. Rechts unten die Skizze ein Rundzeltes, um dessen Spitze sich ein Wolkenring gebildet hat. Ein verballhorntes Malteserkreuz ziert seinen Eingang. Ein Kreuzzug der Wörter gegen die Worte. Die unbedingte Verwirrtheit komplexer Zellenverbände ist jeder Logik ein Greuel, bedeutet aber letztlich ihr Ende. An der engsten Stelle des Zeittrichters, werden die Möglichkeitsfäden unter dem gewaltigen Druck unvorstellbar vieler, gleichzeitig zu treffender Entscheidungen zur sogenannten Gegenwart zusammengewirkt, um sich dann wieder in für alle möglichen Erklärungen zugänglichen, alternativen Universen aufzulösen." (Aus: Zeichnung oder Film, 2013).

(1996)

Zeichnung (435) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Die Sprache atmet, sie zieht sich zusammen und fliegt wieder auseinander. Wir haben es bis zu sechsundzwanzig Buchstaben mit unendlich vielen Kombinationen in Wörtern und Sätzen gebracht. Und zur Darstellung der Buchstaben in einem binären Code, der eine höhere Übertragungsrate verspricht. Jetzt betrachten sich die Menschen von außen und verstummen. Sie trauen und vertrauen sich nicht mehr und wollen ihre Erinnerungen den Maschinen überlassen. Dieses Lebenszeichen, einmal losgeschickt, ist nicht wieder einholbar. Eine große Glocke mit einem Klöppel, der an den länglichen Kern einer Dattel erinnert. Die Silhouetten von Aloe-Pflanzen in Laguna Beach, Kalifornien, kurz bevor es abbrannte, und ich meine Koffer packte, um nach Berlin umzusiedeln. Am Himmel ein Haufen umgeworfener Stühle und regelmäßig permutierte Querschnitte von T-Trägern. Eine Frau mit verbundenen Augen ist im Iran an einem Baukran erhängt worden. Falls sich noch jemand fragen sollte, was mit uns in einem Umfeld staatsreligiösen Schwachsinns geschehen wird." (Aus: arsenal, september 17)

(2007)

 

Zeichnung (443) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Ein Sandweg in Marokko in der Mittagshitze. Eine verschleierte Frau verharrt an einer Stadtmauer aus Lehm. Eine vorbeistolzierende, mit großen Christbaumkugeln behangene Statue wirft einen kurzen Schatten. Oben rechts ein weiß gekleideter Astronaut beim Spacewalk am Himmel, als göttliche Erscheinung. Das alles eine surreale Skizze auf einer aus einem Ringblock herausgerissenen Seite, über der ein Flakon schwebt und Alarmsignale aussendet. Eine Erinnerung an Meshes of the Afternoon von Maya Deren, in der eine verhüllte Frau eine Treppe in den Hollywood Hills hinabgleitet. Vor ihrem Gesicht befindet sich ein von einem schwarzen Schleier eingefaßter Spiegel. Darin soll sich wohl der Betrachter spiegeln. Aber im Film spiegelt sich nur der weiße Himmel von damals. Alle Versuche, uns in einem Film zu spiegeln oder darin gespiegelt zu werden, sind vergeblich. Er bleibt ein kruder Container einer vergangenen Zeit, deren Gegenwärtigkeit nur manchmal zu einem Argument wird. Der Betrachter ist auch ohne Spiegel im Bild." (Aus: arsenal, juni 16).

(2007) 

Zeichnung (437) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"MC - Der Monte Circeo bei Terracina am Golf von Gaeta mit dem Torre Paola und zwei Villen in den Dünen von Sabaudia südlich von Rom. Mein Vater war kein Schwein, und ich will auch nicht wie ein Gefährte Odysseus' von einer Circe in ein Schwein verwandelt werden. Ein von Carola Regnier entworfener Weg aus Steinplatten zu ihrem Haus auf dem Campo Cervino in Sezze ist hier im Grundriß zu sehen zusammen mit den Terrassen, die das Haus umgeben. Früher einmal war dies ein Richtplatz, der einen weiten Blick über die pontinischen Sümpfe ermöglichte. Den Delinquenten bot man so, bevor man sie köpfte, noch eine prächtige Aussicht dar. Dazu ein offener und ein geschlossener Parasol-Pilz, dessen Verzehr mir in Norddeutschland das Innerste nach außen gekehrt hat. Zwei im Iran erhängte Männer - sogenannte Verräter, Ungläubige, Drogenhändler oder Homosexuelle - schleudern an ihren Stricken um den Stamm eines der Pilze und um den Steinpfad herum und bilden eine fragile Balance. Alles zu Ehren des Propheten Mahdi, als angestrebtes oder angerichtetes Chaos." (Aus: Zeichnung oder Film, 2013).

(1996) 

Zeichnung (438) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Zwei Frauen tasten sich in einem Büro gegenseitig die Lymphdrüsen ab, um eine mögliche HIV-Infektion zu diagnostizieren. Im Hintergrund grobe Daten aus der Vermessung eines Gehirnrindenfeldes zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Gelesen wird, was auf den Tisch kommt. Die Furcht vor dem eigenen Mikrokosmos wird in den Makrokosmos projiziert, und der Makrokosmos in die Fingerspitzen, die nichts Gutes verheißen. Sechs stark vergrößerte Mouches volantes gleiten als Kleinstlebewesen verkleidet über die Bildfläche. Links oben ein einfacher Knoten in einem einzelnen schwarzen Haar, enorm vergrößert. Daß wir den Maßstab und die Relationen für unsere Wahrnehmungen wählen können, ist ein Resultat menschlichen Erfindungsgeistes. Sie dann zu interpretieren bleibt weiterhin eine Kunst. Gedanken haben die Angewohnheit, sich in etwas zu verlieren. Das ist ihre Arbeit. Aber statt gedankenverloren dazustehen, biegen die meisten Menschen zu früh ab, in die Krankheit der Rechthaberei. Der Rest steht allein da oder geht seines Weges." (Aus: arsenal, november 17)

(1996) 

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