Heinz Emigholz
Von Anfang bis Mitte der 70er Jahre habe ich eine Serie von Filmen produziert, die ein kompliziertes Wechselspiel zwischen abstrakten zeitlichen Kompositionen - respektive filmischen Bewegungen - und ausgewählten städtischen und natürlichen Landschaften beinhalten.
Die Filme - ARROWPLANE, TIDE und drei Folgen von SCHENEC-TADY - sind zwischen 19 und 40 Minuten lang und bestehen aus Tausenden von Fotografien, die nach einem vorher festgelegten Plan im Einzelbildverfahren mit einer Bolex-Kamera auf 16 mm-Film aufgenommen wurden. Der Standpunkt, von dem aus jeweils fotografiert wurde, war genau gewählt. Kennzeichnungen am Stativ und auf der Zoomlinse der Kamera ermöglichten die Fixierung aller von diesem Standpunkt aus möglichen Bilder in einem Koordinatensystem. In dieses System hinein wurden vor der Aufnahme der Filme Scores geschrieben – Kompositionen für einzeln zu fotografierende Bilder, die in der Abfolge ihrer späteren Projektion ein bestimmtes filmisches Ereignis erzeugten. Einem Brief an Birgit Hein vom 31. Januar 1977, den ich in Vorbereitung einer Installation meiner Filme auf der documenta 6 geschrieben habe, entnehme ich folgende Beschreibung des Scores:
"Aus den 5760 möglichen Einstellungen, die das Schema generiert, kamen für den Film nur ein Bruchteil zur Anwendung; und zwar alle diejenigen, die auf einer bestimmten ellipsenförmigen Bahn um das Stativzentrum lagen ... Linear fortgesetzt ergibt das eine Figur, in der die Bildbahn nach sechs 360-Grad-Umläufen zu ihrem eigenen Ausgangspunkt zurückkehrt. Auf diesen sechs linearen horizontalen Umläufen finden gleichzeitig fünf vollständige Zoomabläufe statt ... Die Entscheidung für diese Bildbahn hat noch keine unmittelbare Auswirkung auf die später sich im Film manifestierenden Bewegungsformationen. Für die Filmkomposition ist nur die aktuelle Folge der einzelnen Bilder entscheidend. Sie liegen zwar alle auf der Bildbahn, folgen ihr aber nicht linear. Die aktuelle Bildfolge in SCHENEC-TADY III: Die Partitur baut neben dem Einzelbild als kleinster Einheit auf distinkte Einheiten von sechs Bildern auf. Dieser Sechs-Bilder-Rhythmus bleibt den ganzen Film über unverändert beibehalten: Auf je sechs zusammenhängende positive Einzelbilder folgen sechs zusammenhängende negative Bilder ...".
Ein Komponieren analog zum Notieren von Musik war also durch die Zerlegung des filmischen Aufnahmeprozesses in unterschiedliche und kontrolliert einsetzbare Kompositionsparameter möglich geworden. Lineare Zeit- und Bewegungsabläufe, wie sie zum Beispiel in jedem Kameraschwenk vorkommen, wurden so analysiert, daß ein komplexes Gebilde aus Filmzeit und Bewegung künstlich erzeugt werden konnte. Die Partituren der Filme existieren auf Papier, das heißt, sie könnten zu jeder Zeit in unterschiedenen Landschaften identisch verfilmt werden. Reale Landschaften werden dabei als Medium, quasi als Matrix verwendet. In ARROWPLANE zum Beispiel kommt es zu einer Reaktion dreier sehr unterschiedlicher Landschaften auf die vorher festgeschriebene Komposition.
Ich habe die Partitur für das Filmprojekt, das später den Titel SCHENEC-TADY bekam, nach einer langen Experimentierphase im Herbst 1972 geschrieben. Drei Filme sind aus diesem Score hervorgegangen. Zwei davon - SCHENEC-TADY I und III - wurden vom 28. März bis 2. April 1973 auf dem Hasenkopf im Taunus, auf einer Waldlichtung, die für ein zukünftiges Wasserwerk geschlagen worden war, in schwarz-weiß aufgenommen. Den dritten Film, SCHENEC-TADY II, habe ich in Farbe in einer Dünenlandschaft nahe Oksbœl in Dänemark gefilmt, wahrscheinlich im Herbst 1973. Zwei weitere Filme, ARROWPLANE und TIDE, deren Scores als Unterthemen der SCHENEC-TADY-Serie den Horizontalschwenk direkt abhandeln, sind im ersten Halbjahr 1974 in Hamburg und in Dänemark entstanden.
Zum Titel SCHENEC-TADY kam die Serie im Februar 1973. Ich hatte in Hamburg auf der Straße einen Stapel amerikanischer Postkarten aus den 30er Jahren gefunden. Diese von der Curt Teich & Co Inc. in Chicago hergestellten Karten reproduzieren grellfarbene Vollretuschen von Landschaften in den USA. Einige davon trugen die Aufschrift A Scene Near Schenectady, N.Y. Der stottrige Klang des Namens – wie sich erst viel später herausstellte ein indianisches Wort für Schöne Aussicht – überzeugte mich ebenso wie die absolute Künstlichkeit der Landschaftsdarstellungen. Ich hatte eine Ausbildung zum Fotoretuscheur hinter mir und das schreiend Nicht-Authentische der Karten war mir im Sinne einer konstruktiven Aufklärung sympathisch.
In den Notizbüchern aus der Drehzeit des SCHENEC-TADY-Projektes tauchen außer Buster Keaton, Jack Smith und Josef von Sternberg keine Namen von Filmemachern auf. Als bildende Künstler nur Francis Picabia, Giovanni Fattori und El Lissitzky. Dafür wurden viele Werke von Schriftstellern zitiert, so als sei in der Literatur ein größerer Fundus an Modellen für die Lösung der auch im Film virulenten logischen Probleme bei der Darstellung simultaner Ereignisse aufzufinden. Flaubert, Philip K. Dick, Rimbaud, Edgar Poe – "I have graven it within the hills, and my vengeance upon the dust within the rock" - und immer wieder Proust, der bis heute genaueste Filmtheoretiker – "Es gibt optische Täuschungen in der Zeit ebensogut wie im Raum". Was mich damals aber am meisten bewegte, waren ein paar Verse aus Shakespeares "Macbeth", Act IV, Scene I, Apparition of Child Crowned: Macbeth shall never vanquish'd be until Great Birnam Wood to high Dunsianhill shall come against him. Eine der raffiniertesten Prophezeiungen, die jemals gegenüber einem in Megalomanie versunkenen menschlichen Geist ausgesprochen und erfüllt worden ist. Daher trägt die Serie die Widmung "Für Great Birnam Wood".
Die Montage der Filme fand in der Kamera statt. Jedes einzelne ihrer Bilder repräsentiert einen Blickwinkel zu einem bestimmten Zeitpunkt. Zwischen den einzelnen Bildern verschwindet dabei eine wie auch immer große Strecke von Realzeit. Gleichzeitig repräsentieren die einzelnen Aufnahmen Punkte auf einer Bewegungslinie, die sich in der Projektion wieder zu einer oder mehrerer gleichzeitig stattfindender, filmischer Bewegungen zusammensetzen. Geschwindigkeit und Rhythmus entstehen also allein durch die Abfolge einzelner Bilder und nicht durch die zeitliche Länge von Kameraeinstellungen. Die Landschaften wurden bis ins Detail hinein von einem Punkt aus fotografiert. Nicht mitabgebildet oder repräsentiert aber wurde in diesen Filmen die träge Realzeit des menschlichen Blicks. An seine Stelle trat eine Abfolge von Bildern als Produkt einer Maschine, die die einzelnen Bilder isolierte, speicherte und in der Projektion im Kontext eines künstlich erzeugten Bewegungsablaufes neu zusammensetzte.
Das Verfahren kennzeichnete und löste gleichzeitig mehrere Probleme, die sich aus der möglichen Repräsentation von Zeit in den technischen Bildmedien ergeben. Genannt sei hier nur das der Simultanität verschiedener Zeit- und Bewegungssysteme im Filmbild. Um die sich daraus ergebenden Paradoxien und Probleme genauer zu bezeichnen, müssen wir definieren, auf welchen Ebenen des Films – seiner Produktion und Konsumtion – Zeit als Stoff, also als bearbeitbare Materie, überhaupt auftritt.
Man unterscheidet bei der Produktion von Filmen zwischen Live Action und Animation. Für die einzelne Einstellung bezeichnet Live Action die Aufnahme und Dokumentation eines realzeitlichen Ablaufes unter Einsatz einer Technik, die die zeitliche Wiedergabe dieses Ereignisses im Verhältnis 1:1 ermöglicht. Werden zum Beispiel 24 Einzelbilder in der Sekunde aufgenommen, die eine reale, gespielte oder dokumentierte Bewegung spiegeln sollen, wird das Gehirn des Zuschauers diese 24, in einer Sekunde projizierten Bilder wieder zum kontinuierlichen Bild des ursprünglichen Bewegungsablaufes zusammensetzen. Spielfilme und Dokumentarfilme montieren Cluster solcher Aufnahmen zu narrativen Konstrukten. Bei dieser 1:1-Relation von Aufnahme und Wiedergabe, die bei den meisten Filmen zur Anwendung kommt, handelt es sich allerdings um einen logischen Spezialfall, denn Aufnahme- und Wiedergabegeschwindigkeiten sind technisch frei bestimmbare Parameter. Alle möglichen Verfahren der Animation, also der freien Gestaltung einer künstlichen Relation zwischen Aufnahme- und Wiedergabezeit, sind denkbar und in Maschinen produzierbar. Zeitliche Abläufe können gedehnt, gestreckt, inversiert und ineinander versetzt werden. Die Linearität oder Kontinuität eines realen Ortes, die schon in jedem Spielfilm durch Montage aufgebrochen wird, kann bis hin zum einzelnen Bild auf dem Filmstreifen - am Computer bis herunter zum letzten Bildpixel - aufgespalten werden. Der Künstlichkeit sind logisch keine Grenzen gesetzt. Als einzige Relation zur realzeitlichen Welt bleibt die Live Action des Zuschauers gegeben, der seine Wahrnehmung und seine Gedankenwelt auf das in seine Lebenszeit hineinprojizierte Produkt der Animation bezieht. Aber auch diese Ebene ist durch interaktive Prozesse weiter aufspaltbar.
Die filmische Darstellung schafft also ein System von Zeiten verschiedener Ordnungen, die widersprüchlich, aber simultan ablaufen: Realzeit von Ereignissen versus Kunstzeit gestalteter Bildabläufe versus Lebenszeit des Betrachters. Das Medium Film lebt von diesen Paradoxien eines linear präsentierten Bildablaufs, in dem „Zeit“ stofflich verhackstückt non-linear aufbereitet wird. Es bildet damit ein starkes Analogon zum Denken, das auch linear in der Zeit, in seinen Bewegungen aber ebenso non-linear stattfindet. Die Gleichung Bewegung gleich Zeit leuchtet nur als statistischer Mittelwert einer geruhsamen Betrachtung ein. Bildketten, die sich wie die SCHENEC-TADY-Filme nicht diesem Idealfall verpflichtet fühlen, korrespondieren zum Denken auf der physischen Ebene komplexer Assoziationsräume, in denen Linearzeit kollabiert. Mein Wunsch, Simultanität - die Gleichzeitigkeit verschiedener Bewegungen und Zeitsysteme bis hin zur Inversion - im Medium Film darzustellen, hatte auch das Motiv, den Betrachter auf der physischen und nicht nur auf der repräsentativen Ebene des Denkens zu animieren. Für den abgefilmten Gegenstand - die Landschaft - hat das die Konsequenz, dass sie in ihrer Natürlichkeit in ein künstliches System überführt wird. Als imaginäre Architektur in der Zeit bildet der Film so die Schnittstelle zwischen innerer und äußerer Landschaft: Er repräsentiert Zeit und er ist Zeit. Er behandelt Landschaft als Objekt und ist gleichzeitig ihr Objekt. Er konkretisiert dabei den bestimmten Ort zu einer gewesenen Zeit in nie dagewesener Weise. Er macht Vergangenheit und Zukunft punktuell zugänglich in einer gegenwärtigen Projektion. Und gleichzeitig bildet er ein Korrelat zu einem komplexen Denken, das sich in den linearen Breschen, die der Spielfilm schlägt, nur selten wiederfindet. Dessen Unzulänglichkeiten waren starke Motive für die Entwicklung des SCHENEC-TADY-Scores.
Als Analyse filmischer Bewegungsformationen ist die SCHENEC-TADY-Serie enzyklopädisch angelegt. Alle Einzelthemen – Schwenk, Simultanität, Geschwindigkeit, Überlagerungen, Inversion von Lichtwerten, Richtungen und zeitlichen Abläufen – wurden darin isoliert und durch kompositorische Setzungen gelöst. Aber jedes enzyklopädische Verfahren ist in seinem Kern – dem Beharren, daß menschliche Erkenntnis unter den Bedingungen der Isolation sinnvoll existieren kann - auch ein naives Unterfangen. Musik kann ohne Zweifel unter dieser Voraussetzung produziert werden. Und wie man Musik nur hören, aber nicht nacherzählen kann, so lassen sich diese Filme nur ansehen. Eine wiederholbare Story, die neben dieser Wahrnehmung selbst existieren könnte, ist in ihnen nicht enthalten. Aber auch die Annahme einer solchen Wiederholbarkeit galt es anzuzweifeln, rücken doch die Aufzeichnungstechniken selbst in ihrem Verhältnis zum Aufgezeichneten die Welt in einer Weise zurecht, die schon den größten Teil jeder Story oder auch History ausmacht.
Die SCHENEC-TADY-Serie ist aus der Einsicht entstanden, daß zuerst die Grundlage der Zeitrepräsentation durch die Analyse filmischer Bewegungen zu klären ist, bevor man sich den Fragen der Bedeutung einer speziellen filmischen Repräsentation widmen kann. Mit SCHENEC-TADY III war 1975 die in diesem Rahmen mögliche große Oper vollendet und für mich das Kapitel Animation für lange Zeit abgeschlossen. Was danach kam, war Live Action. Heute interessiert mich filmische Repräsentation und Narration mehr als je zuvor. Denkbar aber ist auch diese Beschäftigung nur vor dem Hintergrund, daß wir in unseren filmischen Verfahren Zeit als Stoff isolieren und neu konstruieren können. Dabei ist es unerheblich, durch welche Abbilder Zeit repräsentiert wird. Sie muss nur erst als Materie selbst erkannt sein, um gestaltet werden zu können.