Heinz Emigholz im Gespräch mit Siegfried Zielinski

Emigholz: Logik gilt gemeinhin als die Kunst zur Regelung abstrakt definierter Beziehungen. Technische Abbilder der sichtbaren Realität ermöglichen heute aber innerhalb logischer Abläufe an Stelle des mathematischen Zeichens den Auftritt des realen Raumes selbst. Damit meine ich nicht den Gebrauch des realistischen Abbildes als Icon, das in Suchmaschinen quasi als Wort existiert. Diese Reduktion auf isoliert zugewiesene oder formalisierte Bedeutung ist ja eher ein Kalauer. Ich frage mich vielmehr, wie Bilder – als komplexe Gebilde einer ausgedrückten Gleichzeitigkeit – innerhalb eines avancierten Denkens auftreten könnten. Das müssen keine kybernetischen Modelle sein; ich möchte ja gerade nicht die Oberflächen der Welt aufbrechen, um dahinter einen geheimen Code zu entdecken. Vielmehr bin ich überzeugt, daß gerade die Oberflächen es sind, die zu uns sprechen sollten. Die fotografische Fläche, die etwas dokumentiert, repräsentiert damit auch das Denken ihres Konstrukteurs. Es wird durch den gerichteten Blick auf sie appliziert. Daß das "Lesen" von Oberflächen in unserer angeblich so visuellen Kultur, so wenig eingeübt ist, ist natürlich nicht auf das Phänomen „Kunst“ beschränkt. Die erzeugt immerhin schon hin und wieder das Interesse, sich auf Besonderheiten einzulassen.

Zielinski: Mit einem derartigen „Lob der Oberfläche“, das ist der Titel eines Textes von Vilém Flusser, stünden die Künste in der Tat nicht allein. Avancierte Physiker der ganz kleinen und der ganz großen Welten, des Mikrokosmischen und des Makrokosmischen gehen längst davon aus, daß sie durch ihre theoretische und experimentelle Praxis nur einen Zugang zum Gesicht der materiellen Welt bekommen können, nicht aber zum Inneren der Materie selbst. Aber das ist eine Menge. Sie hält uns reichlich beschäftigt, in Würde.


H.E.: Filme – und das ist jetzt schon fast das Mission Statement der "Photographie und jenseits"-Serie – könnten so Teile eines neuartigen Denkgebäudes bilden. Verbal schweigen diese Filme, aber sie ermöglichen es, in dem vorgeführten Raum zu denken. Der Grat zwischen einer banalen Verdopplung und einer in die Zeit der Betrachtung gehobenen Gleichzeitigkeit ist dabei sehr schmal und wird sicher nur durch die Qualität der Kinematographie entschieden.
    
S.Z.: Was uns gegenübertritt, das, was nicht mit uns identisch ist, begegnet uns visuell nur durch sein Gesicht. Was das Gesicht verbirgt oder auch ausdrückt, ist uns durch den Distanzsinn des Sehens nicht zugänglich. Das eigenartige und mittlerweile bis zum Erbrechen inflationierte Wort Interface hat hier seine eigentliche Bedeutung. Es macht nach wie vor Sinn. Wir müssen es nur als einen dramatischen Ort begreifen, den das deutsche Wort Schnittstelle besser trifft. Die in die Bildflächen eingebrannte Gleichzeitigkeit, von der Du sprichst, verstehe ich als Drama, allerdings nicht im Sinn des Spektakels. Alle Objekte, die Du gefilmt hast, zeigen die Werke der jeweiligen Architekten. In der Projektion zeigen sie aber auch Deinen Blick auf sie, die Zeit der Aufnahme, die Zeit des Erkundens, die Zeit, die verstrichen ist, seitdem sie gebaut wurden, die Zeit, die sie ausgehalten haben. Das sind enorme Spielflächen für Dramaturgien der Differenz als Alternative zur „banalen Verdopplung“.

H.E.: Für mich ist dieser Weg der filmfotografischen Rekomposition des Raumes notwendig – im Akt der filmischen Aufnahme, aber auch als Betrachter. Der Blick wird quasi wie Materie auf den Raum aufgeschraubt und macht klar, dass dieser Raum nur durch unsere bestimmten und endlichen Körper in der Zeit existiert. Wir sind das Medium des Raumes und seiner Oberflächen, und jeder Blick ist in seiner Feinstofflichkeit die Interpretation einer seiner Möglichkeiten. Dieses Neue im Bestehenden zu erkennen, indem man es kompositorisch aus dem Netz der aktuell bestehenden Beziehungen löst, erfordert allerdings ein besonderes Momentum, das es mit der Gleichzeitigkeit des Wirklichen auf der zu komponierenden Fläche einer Abbildung aufzunehmen vermag. Ich glaube, daß jeder Einzelne den Raum jeweils anders als alle anderen wahrnimmt. Und aus diesen Wahrnehmungsnuancen entstehen Kunst und Gestaltung.

S.Z.: Eine Uhr, die in die Spitze eines hohen Turms eingebaut ist, geht geringfügig schneller als eine Uhr, die am Fuß desselben Turms angebracht ist. Wenn ich davon ausgehe, dass jedes existierende Ding im umfassenden Sinn des Wortes seine eigene Zeit hat, die sich jeweils in ein spezifisches Spannungsverhältnis mit der chronologischen Dauer und der aionischen Ewigkeit setzt, würde ich lieber von einer unbegrenzten Vielzeitigkeit sprechen, mit der wir konfrontiert sind.
    
Die Forderung, die im Hinblick auf eine individuelle Haltung gegenüber dem Wirklichen zu erheben wäre, ist aber dieselbe, die Deine Formulierung für mich beinhaltet. Es ist eine kairotische Haltung. Sie setzt auf den Augenblick der Entscheidung als riskantem Akt der Balance über dem Abgrund des Dauerhaften und der Ewigkeit. Soweit das Gesamte für uns überhaupt denkbar ist, setzt es sich aus einer Unzahl paralleler Welten zusammen. Im Moment können wir aber immer nur in einer davon sein. Das ist kein Dilemma, sondern eine Chance, aus dieser einen heraus die anderen in Verantwortung mit zu gestalten.

H.E.: Du beschreibst in Deinem Buch „Archäologie der Medien“ anhand vieler Beispiele, wie das, was in der technischen Entwicklung Fortschritt genannt wird, sich auch aus der Verdrängung alternativer Lösungen heraus konstituiert hat, und daß „Fortschritt“ immer auch ein gesellschaftliches Opfer darstellt, dessen Konsequenzen in der Zeit nur schwer mitgedacht werden können. Wie lassen sich diese "vergessenen Möglichkeiten" wieder heben – „anklicken“ hätte ich fast gesagt – und auf die erste, faktische Ebene legen?

S.Z.: Vor allem durch ein geistesgegenwärtiges Handeln, das die Realität, also das, was geworden ist, nicht höher schätzt als die Möglichkeit, also das, was auch sein könnte. Ausgestattet mit einer solchen Sensibilität entwickelt sich in der Tat automatisch das Interesse an historisch zurückliegenden Varianten, die dann wiederum energetischer Anstoß für die Schaffung eines gegenwärtigen Reichtums werden können. Philosophische Grundlage für ein solches Denken und Handeln ist die Vorstellung von vielen neben einander existierenden Welten, also der Abschied von der einen Wahrheit, dem einen Universum, in dessen Mittelpunkt unsere kleine Erde und der Däumling stehen, den wir Mensch nennen, der Abschied von dem einen Gott. Meines Wissens hatte Giordano Bruno am Ende des 16. Jahrhunderts zuerst solche Ideen. Er formulierte sie in seinem "Heroischen Leidenschaften und individuelles Leben". Sein Plädoyer für die Eigenzeit jedes individuell Existierenden wurde ihm ebenso zum Verhängnis wie sein leidenschaftliches Eintreten für die Anwesenheit Gottes in der materiellen Welt. Exakt in der Wende zum Jahrhundert, in dem die moderne Naturwissenschaft sich zu etablieren begann, 1600, wurde er auf dem römischen campo di fiori verbrannt.

H.E.: In alternativen Gegenwarten, möchte man meinen, existieren diese nicht weiter verfolgten Möglichkeiten aber fort und schreiben eine ganz andere Geschichte als die uns linear vorgeführte oder aufgedrängte.

S.Z.: Im Kern geht es um eine entschiedene Haltung des Respekts, eine Achtung vor dem, was an die Peripherie geschoben wurde und ständig dorthin geschoben wird. Und es geht um ein Nachdenken darüber, warum diese Verlagerung passiert. Die Architekten Deines Zyklus’ sind dafür gute Beispiele. Das meiste von dem, was Bruce Goff, Robert Maillart oder Louis Sullivan einst bauten, war weitgehend in Vergessenheit geraten, bevor Du ihm wieder die Aufmerksamkeit Deiner Einbildungskraft, Deiner Kamera und Deiner Editiergeräte geschenkt hast. Archäologien der Medien wie der Architektur feiern den Variantenreichtum. Der Begriff "alternative Gegenwarten" gefällt mir sehr.

H.E.:
Die Welt zeigt sich uns, und wir führen uns gegenseitig die Welt vor – nicht nur in den Facetten der Dinge, sondern auch in denen unserer Blicke. Dabei ist eine lineare Vorstellung von Realität nur noch als Einsteigs- oder Ausstiegsmodell tauglich. Nach allem, was Medien inzwischen alles vermögen, ist das so etwas wie ein zweiter Paradigmenwechsel. Die Wirklichkeit soll nicht mehr mit Sprache überzogen und interpretiert, sondern „nur“ so perfekt wie möglich mittels einer intakten fotografischen Oberfläche im Sinne einer „Vorführung“ gezeigt werden – ein Motiv so alt wie die Geschichte des Films, aber lange Zeit in einer Nebenlinie verschüttet: Die Wirklichkeit der Oberflächen als logisches System erkennen, ohne auf der Suche nach einem "inneren" Code zu sein – eine Suche, die bisher noch alle Intellektuellen zu Verbrechern gemacht hat.

S.Z.: Es lohnt sich, darüber nachzudenken, inwieweit die strukturalistischen Spielarten der Filmtheorie und der filmischen Avantgarde an einer solchen Entwicklung nicht Anteil hatten. Pasolini hat dies vor mehr als dreißig Jahren gespürt, als er gegen die semiologischen Jongleure der delirierenden Zeichen sein Konzept der Wirklichkeit als Code und das Kinem als kleinste filmische Einheit setzte. Er bestimmte sie durch die Gegenstände, die der Filmemacher aus der Realität herausschneidet und in das Zeitbild des Films einfügt. „Die Wirklichkeit ist ein Kino in natura“, notierte Pasolini in den Ketzererfahrungen (empirismo heretico) und kritisierte Godard heftig wegen seines prinzipiell zynischen Verhältnisses zur Wirklichkeit. Als Alan Turing seinen berühmten Laborbericht von 1948 über "intelligente Maschinerie" veröffentlichte, nannte er seinen Entwurf im Untertitel eine häretische Theorie. Vielleicht ist dies eine Möglichkeit, die neue Schule des Sehens, wie Du sie forderst, zu praktizieren: als häretische Theorie und Praxis gegenüber den etablierten Bilderwelten und Bildtheorien.

(Aus: Camera Austria Nr. 87, 2004)

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