049

Zeichnung (49) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Ein Brainstorm auf einer Holzterrasse am Atlantik in Stone Harbour, New Jersey, 1975. Der Ursprung - A WELL - meiner Miscellanea-Filme ist die Zeichnung La Pelouse von Georges Seurat. Deren Kohlepartikel kommentieren die jeweiligen Aktualisierungen der Welt durch Rasterpunkte und Codes: vom Konkreten zum Abstrakten und wieder zurück, eine komplette Virtualisierung. Ausgehend von einem arabischen Hammam die Beschreibung einer imaginären Wanderung, im Uhrzeigersinn: der von Touristenbooten ausgeleuchtete Cruisingpark am Quai d'Austerlitz in Paris, Gabriele d'Annunzios Vittoriale am Gardasee, eine Lockheed T-33 an einem Swimming Pool in Del Rio, Texas, das Gemälde Die Beerdigung des Grafen Orgaz von El Greco in Toledo, die endlichen Variationen zweidimensionaler Unendlichkeitsmuster auf den Kacheln der Alhambra in Granada, Auguste Rodins Porte de l'enfer in Zürich, die Ruinen von St. Pere de Rodes in den Pyrenäen, die Fahrten des US-Flugzeugträgers Ticonderoga im II. Weltkrieg und der architektonische Brutalismus im saudi-arabischen Rhiad." (Aus: Zeichnung oder Film, 2013).

(1994) 

Erzählung - Raum - Projektion

In den ältesten Konzepte des Erzählens tauchen als Hilfsmittel für die Konstruktion oder die Erinnerung langer Texte Bauwerke auf. Gedachte Architekturen, mentale Landschaften, die im Fortgang des Erzählens durchschritten werden. Die Details dieser eingebildeten Bauwerke stehen für einzelne Gedanken oder grammatikalische Wendungen. Die in der Bewegung des Betrachters veränderten Blickwinkel konstituieren die Dramaturgie der Erzählung. Ein erlernter und erinnerter Gang durch diese Räume und an den Einrichtungsgegenstände entlang rufen im antiken Erzähler das Nacheinander der zu erzählenden Einzelheiten wach. Die epische Breite seiner Erzählung entfaltet sich in der Zeit. Jeder Schritt in den imaginierten Raum hinein evoziert die Erinnerung an den nächsten Schritt und die an ihn geknüpften Sätze.
    Tiefer als der zu erzählende Text liegt also im Gehirn des Erzählers die imaginierte Landschaft, die diesen Text hervorruft. Als nichtsprachlicher Urtext und Stellvertreter dient dabei das Bild eines Raumes als Medium für eine Erzählung. Es vertritt den Text, läßt die gewünschten Kopien der wortsprachlichen Erzählung von sich abziehen, macht ihn wiederholt abrufbar.
    Die Fähigkeit des Gehirns, Körperliches und die Gestalt von Materie solider zu erinnern als den abstraktsprachlichen Ausdruck darüber, wird in diesem Verfahren der Rhetorik in einem gedoppelten Sinne genutzt. Die äusseren Erscheinungen werden im Lernvorgang auf ein Wort oder eine sprachliche Wendung hin definiert und so als Chimäre im Gedankenraum des Gehirns eindeutig funktionalisiert. Die Dinge verlieren in dieser Funtion ihre Kraft, für sich selbst zu sprechen. Sie entleeren sich eines eigenen Sinnes und dienen nur noch als Bildhülsen für Worte. Für Worte oder Gedanken, die ohne diese Umhüllungen allerdings für die Erinnerung verloren gegangen wären. Die Sprache bindet sich so im Vorgang der Erinnerung scheinbar an Materie, um gleichzeitig über Materie zu triumphieren.
    Wir erleben also in der Erzählkunst der Antike den Vorgang einer inneren Projektion. Bilder von Materie dienen ohne Rückbezug auf dieselbe der Aufrechterhaltung eines Erzählflusses, den es zu tradieren gilt. Das zu erzählende Schicksal ist dabei vorgegeben, es wird nicht durch neue Bilder beeinflußt. Es wiederholt sich und wird selber zu einem statischen Bild, das sich über den Umweg eines funktionalisierten Bildes reproduziert. Der antike Mensch erlebt sich in dieser Wiederholung.
    Film als technisches Medium projiziert die Räume der Erinnerung selbst und bereitet sie nicht nur vermittels eines Gehirntricks auf. Die Medien Schrift, Zeichnung, Fotografie, Film, Bild- und Datenelektronik haben die komplexe Technik des Erinnerns in die Verfügbarkeit technisch erzeugter Speichersysteme verlegt. Rudimentär ist die antike Technik des Rhetors noch vorhanden in der Memorierarbeit eines Schauspielers oder Vortragenden. Der so erzeugte Text hat aber seine Autorität verloren. Der Schauspieler könnte ebensogut einen sinngemäß entgegengesetzten Text aufsagen. Er könnte den antiken Erzähler höchstens noch nachspielen, von seinem Sinn wäre er nicht erfüllt.
    Die technische Projektion erlöst von der verzweifelt eindeutigen inneren Projektion eines fixen Textes. Die Erinnerung kann nun durch ein äußeres Medium betrachtet werden, sie kann aber eben dabei auch wie ein Äußeres betrachtet werden. Diese technische Möglichkeit führt zu einem neuen Spiel mit Geschichte. Die innere Entscheidung zu dem so vorgeführten "Text" wird damit auch privater, spielerischer, sicher auch unverbindlicher - eine Tatsache, die mancherorts als Verlust des Politischen beklagt wird. Ganz sicher verflüchtigt sich ein manipuliert eindeutiger Sinn, die Geschichten verzweigen sich.  Zugleich aber wird der Stoff der Erinnerung selbst als eine objektive Materie vorgeführt. Die projizierten Bilder können wieder für sich selbst sprechen, sie sind nicht nur Hilfsglieder bei der Rückübersetzung in ein abstraktes Sprachgitter.
    Photographie und jenseits versucht eine Balance zwischen dem schweigenden Erzählen der Dinge und den Behauptungen eines Erzählers über einen bestimmten Verlauf von Zeit. Das Modell eines architektonisches Erinnerungsraumes wird vom Film übernommen - nicht als Vorstellungsbild, sondern als Realität.

(aus: PHOTOGRAPHIE UND JENSEITS – Drei Filme von Heinz Emigholz, Katalog Berlinale Forum, 2001)

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