The Meadow of Things

Claus Wilhelm Klinker, Eckhard Rhode, Klaus DufkeDie Wiese der Sachen

„To whom in love of Nature holds communion with her visible forms, she speaks of a various language.“ William Cullen Bryant

Clonetown, 1974 bis 1979. Die Chronik eines Abschieds. Charon, ein abgesprungener Terrorist (Eckhard Rhode), sitzt am Ufer zur Vergessenheit und kommentiert die bevorstehende Vermoderung eines entführten Autohändlers. Er hätte auch gern einen Körper gehabt. In seiner Erinnerung ziehen seine zweiten und dritten Ichs herauf, der megalomanische Künstler und der perverse Teppichhändler (John Erdman).

Abb.: Claus Wilhelm Klinker, Eckhard Rhode, Klaus Dufke

Die ehedem achtlos mißhandelten Dinge rächen sich in seinem Kopf. In der Fernsehsendung ›Tausend Häuser‹ werden Bauwerke auf die Gehirne ihrer Architekten zurückprojiziert. In den Bäuchen längst gestrandeter Schiffe haben Matrosen immer noch Sex. Dem allwissenden Erzähler ist das Publikum weggestorben. Er liegt auf seinem Hotelbett in Vancouver, ißt Opium und ruft sich alle Räume, in denen er jemals hauste, ins Gedächtnis zurück, Jedes Jahrzehnt hat seinen eigenen Zugang zum Himmel.

Jürgen Behrendt, Klaus DufkeBRD 1974-87
16 mm, s/w und Farbe
88 Minuten (24 B/Sek.)

Zusammen mit den Filmen Normalsatz (1978-81) und Die Basis des Make-Up (1979-84) bildet der Film die Trilogie der Siebziger Jahre.

Regie, Kamera, Schnitt: Heinz Emigholz
Buch: Heinz Emigholz ("vermoderte schließlich bis auf das tote skelett" von Eckhard Rhode, "Der Satz des Anaximander" in Übersetzungen von Nietzsche, Diels und Heidegger)
Licht: Axel Schäffler, Heinz Emigholz
Ton: Alfred Olbrisch, Vincenz Nola
Mischung: Stephan Konken

Darsteller:
Eckhard Rhode, Wolfgang Müller, Andreas Coerper, Hilka Nordhausen, Klaus Dufke, Hannes Hatje, John Erdman, Claus-Wilhelm Klinker, Holger Wobker, Bernd Skupin, Bernd Broaderup, Marko Lakobrija, Jürgen Behrendt, Sheila McLaughlin, Lynne Tillman, Marcia Bronstein, Käthe Kruse, Nikolaus Utermöhlen, André Lützen, Kay Borowietz, Peter Ott, Olaf Munir Abdel-Al, Peter Blegvad, Silke Grossmann, Cynthia Beatt, Christoph Derschau, Reinhard Wilhelmi, Ueli Etter, Heinz Emigholz, Petra Nettelbeck und David Marc

Die Tödliche DorisProduziert von Pym Films mit Hilfe von Alfred Olbrisch, Eckhard Rhode, Klaus Dufke, Renate Merck, Elke Granke, Rüdiger Neumann, Ueli Etter, Silke Grossmann, Kuratorium junger deutscher Film, Cinegrafik, Hamburger Filmbüro, Galerie Eisenbahnstraße, Die Tödliche Doris, Tide, Stuhl, Normalsatz, The Basis of Make-Up, Die Basis des Make-Up, Die Drehtür, Der Begnadete Meier und Die Republik

Drehorte: Hamburg, Manhattan, Brooklyn, Taunus, Vancouver
Drehzeit: April 1973 bis August 1987

Der Film enthält als Zitat einen Auschnitt aus SCHENEC-TADY IV, einer 1975 hergestellten und nicht veröffentlichten Folge der SCHENEC-TADY-Serie.

Weltvertrieb: Pym Films
Filmverleih: Freunde der Deutschen Kinemathek
Videovertrieb: Filmgalerie 451

Uraufführung:
Berlinale, Panorama, Atelier am Zoo, 16. Februar 1988

DIE WIESE DER SACHEN erhielt 1988 auf der Berlinale den "Gay Teddy Bear Award" als Bester Spielfilm.

Heinz Emigholz DIE WIESE DER SACHEN, der Text des Films

Hilka NordhausenKritiken

„Man möchte Ähnlichkeiten zwischen Fernando Pessoa, dem Autor des ‘Buchs der Unruhe’, und Heinz Emigholz feststellen, ohne sofort überprüfen zu müssen, ob der Vergleich standhält: die Assoziation drängt sich auf. Die Resultate beider sind unterschiedlich genug; aber es ist die (Erzähl)-Haltung, die den Vergleich zu gestatten scheint: sich eine als äusserst fremd empfundene Welt aneignen, indem sie einem ideolektischen Modus der Beschreibung und der Reflexion unterworfen wird.
Mit DIE WIESE DER SACHEN hat Emigholz nach NORMALSATZ und DIE BASIS DES MAKE-UP seine Langfilm-Trilogie über die 70er Jahre abgeschlossen. Wie schon in den zwei vorangegangenen Filmen dominiert in der Wiese der Sachen der Konflikt ‘Innen/Außen’ den Aufbau der Erzählungen. Es ist die existenzielle Fragestellung nach der Position des eigenen Ichs, das sich der grundsätzlichen Andersheit dessen, was sich als gesellschaftliche Wirklichkeit organisiert, bewußt wird. Was dabei Pessoa gedämmert haben mag, hat sich bei Emigholz zur Gewißheit verdichtet: ‘Die Menschen als zu Lebzeiten abgestoßene Leichenteile einer sich auf ewig weiterteilenden Gesellschaft.’ Dieser Konflikt läßt sich in alle Ebenen der Erzählung hinein verfolgen, die aus einem zusammengetragenen Splitterwerk besteht wie jene Scheiben, in denen das Alter Ego des Narrators in der ersten Sequenz wühlt.
Ein Telefon läutet, unmittelbar neben einem Fenster, das den Blick auf die Großstadt draußen (‘Clonetown 1974-1979’ wird sie genannt) freigibt. Jemand hebt ab, legt den Hörer neben den Apparat: Emigholz wird uns seine Fragmente aus großer Ferne berichten, aus Vancouver, Kanada, und tot sei er auch schon, seit dem 9. Oktober 1979, wie man erfährt.
Da ist zunächst die ‘Kämpfende Einheit Bernard Buffet’, die Mercedeshändler kidnappt und gegen Lösegeld wieder freiläßt. Deren Letzter hat freilich Pech: als der Bundeskanzler sich weigert, einen After-Eight-Spot aus dem Volksgefängnis im Werbefernsehen zu senden, wird er lebendig begraben: Emigholz’s ironischer Kom-mentar zum Individualterrorismus ... Dessen Drama machte es aus, die Kluft zwischen dem Innen des eigenen moralischen Anspruchs und dem Außen der gesellschaftlichen Realität nicht ertragen zu haben; ein gescheiterter Versuch, das eine über die übermächtige andere stülpen zu wollen. Der Erzähler selbst ist abgesprungener Terrorist; wohl nachdem er einen Stapel Postkarten mitgebracht hatte und ‘vor den Augen der Gruppe die Motive für den Erwerb jeder einzelnen Karte offenlegen’ mußte. Nun flüchtet er durch die diversen Hotelzimmer. Bevor er sich auf die Suche nach einer neuen Identität begibt, läßt er seine früheren Wohnstätten Revue passiere: im Film Zeitrafferaufnahmen; die einzelnen Kader langzeitbelichtet und auf der optischen Bank wieder vervielfältigt; schemenhaft die Silhouetten der Menschen in den ‘Räumen der Vergangenheit: darin unsere Geister’. Noch einmal tauchen die Identitäten des Erzählers auf: der megalomanische Künstler aus NORMALSATZ, der perverse Teppichhändler aus der BASIS DES MAKE-UP (die anderen Ichs, auch das ein Motiv bei Pessoa); aber die eigenen Konstrukte der Phantasie bieten keinen Fluchtpunkt mehr...
Immer wieder wechselt Emigholz auf die Ebene sarkastischen Humors. Dennoch überwiegt die Diagnose des endgültigen Verlusts jeder Art von Zufluchtsmöglichkeit. In der Schlußsequenz finden sich die Menschen im Keller wieder. Auf rohen, hölzernen Regalen voll Stroh haben sie ihre Leiber abgelegt. Nicht mal der Blick nach draußen ist ihnen geblieben. Knallrot die Fensterscheibe. Der Blick nach draußen ist leer.
In DIE WIESE DER SACHEN hat Heinz Emigholz seine Erzähltechnik - formal wie inhaltlich - noch weiter perfektioniert. Seine Arbeiten will er ais Aussagen über die Realität verstanden wissen, das Medium Film soll ihm dabei als Mittel dienen, nicht als Thema für sich (das Etikett des ‘strukturellen Filmemachers’, wie es besonders für sein frühes Werk gerne verwendet wird, weist er kategorisch zurück). Allerdings ist es auch die formale Komposition seiner Bilder und ihrer Verkettung, die deren eminente Qualität ausmachen. So hat Emigholz eine filmische Weise urbanen Erzählens entwickelt, wie man sie kaum sonst wo zu finden vermag. Gemessen an ihm wirkt jede Schuß-Gegenschuß-Abfolge wie der unerträgliche Ausdruck einer heimeligen Dorfidylle, wie sie nicht einmal für die tiefste Provinz mehr gültig sein kann. Das Fragmentierte des Raumes seiner Kamera, die keine verbindlichen Koordinaten mehr kennt, die zertrümmerte Zeit unter den isoliert wirkenden Sätzen, die sich fast nur gewaltsam zu einer einiger-maßen tragfähigen Kohärenz des Nacherzählbaren zusammenfügen lassen: seine Filme spiegeln das klaustrophobische einer Bedrohung, in der nahezu jeder Raum zu eng geworden ist: das Innen welcher Ideologie auch im-mer, das Außen jeder Art von öffentlicher Inszenierung: ‘Die Welt platzt nicht gleich auseinander, wenn das Gedankenkostüm nicht mehr paßt, in das ,man sie gepreßt hat. Die Menschen sind ihr völlig gleichgültig’, denn: ‘Aus-nahmslos alle sind austauschbar’. Und so seine Bewegung nach vorne: auf jene borderline dazwischen, von der aus alles, was den Anschein des Festen, Verläßli-chen und Gültigen sich zu geben versucht, obsolet erscheint.“
Peter Tscherkassky, BLIMP, Nr. 11, 1989

„Reimte sich NORMALSATZ auf Neugier, so DIE BASIS DES MAKE-UP auf Denkmal, kahl und kalt wie die Schädelknochen unter der geschminkten Maske.
Diese Antithesen werden in DIE WIESE DER SACHEN in Ironie aufgehoben. Ein ausgestiegener Terrorist ruft an, redet aus dem alleingelassenen Hörer. Erzählt von seinem Haß auf Mercedes-Limousinen, der ihn zum Verbrecher gemacht hat. Erzählt vom Leben, das in jeder Sekunde verloren geht, lacht über Leiden an der Leichtigkeit des Lebens.
Zum Off-Text zeigt Emigholz die Räume, in denen sein Schweiß verdampft ist und die Fenster, die sein Atem beschlug. Zeitraffer-Sequenzen, in denen die Zeit als Bewegung über die Oberfläche der Dinge fließt: Fotografie der Geister, die wie Schatten in der platonischen Höhle durch ihre vorzeitigen Gräber huschen.
Denn die Wirklichkeit draußen ist bloß albern. Ein Fernsehreporter erklärt das IBM-Haus an der Ost-West-Straße zum Monument der Lochkarte, von der schon keiner mehr weiß, wie sie aussieht, und die Kachelwände der U-Bahnstation Messberg als fäkalen Dank des Architekten an seine Mutter: ein Haufen Scheiße in einem Meer aus Pisse.
Der ästhetische Terrorist träumt dabei von Sätzen, die wie Zeitbomben wären. Die sich im Gehirn niederlegen, um bei der nächsten Gelegenheit zu platzen und ihre Sporen zu verteilen.“
Uwe Ruprecht, TAZ, 21. April 1979

„Seine Filme erfinden zwar, sie situieren Figuren, Handlungen und Gespräche. Trotzdem haben sie nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem klassischen Erzählkino. Im Gegenteil: Dessen verlogene Illusion einer kontinuierlichen Handlung sowie natürlicher Charaktere, deren Gefühle sich in aufdringlicher Expressivität äußern, verursachen Emigholz physische Schmerzen. Sein Gegenentwurf entspringt deshalb nicht einer intellektuellen Laune. Er ist Ausdruck körperlicher Notwenidigkeit, die auf der Erfahrung von Kontingenz anstelle der Kohärenz beharren.’“
Mathias Heybrock, FRANKFURTER RUNDSCHAU, 2. März 1996

Andreas Corper Hans Hurch

Strahlende Blicke

HANS HURCH: Die drei Filme, die jetzt in Wien gezeigt werden, markieren wesentliche Momente in der Entwicklung Ihrer Arbeit. Da ist zuerst die rein strukturell in Einzelbildern komponierte Landschaft von SCHENEC-TADY III (1972/ 75). Dann folgt HOTEL (1975/76), ein Film in dem kleine Handlungsfragmente und Bewegungsabläufe bearbeitet werden. Und schließlich DIE WIESE DER SACHEN (1974/87), ein Langfilm, der, wenn auch auf sehr eigenwillige Weise, eine Geschichte erzählt. Oder so tut, als würde er eine Geschichte erzählen. Wie hat sich diese Entwicklung vollzogen?

HEINZ EMIGHOLZ: Es fing damit an, daß ich mit „Film“ überhaupt nicht klargekommen bin. Die filmische Abbildung, der Realismus im Film, das, was da Zeit und Bewegung repräsentiert, hat mich als Betrachter nahezu verrückt gemacht. Und meine ersten Arbeiten waren wie eine Medizin dagegen - um mich zu beruhigen. Film hat mich verrückt gemacht und war gleichzeitig selbst die einzige Möglichkeit, zu analysieren, was die Parameter dieser Bewegung sind, wie sie sich zusammensetzt, wie Abbildung entsteht. SCHENEC-TADY war sozusagen die große Oper darüber, der rigorose Versuch, alle Möglichkeiten der filmischen Bewegung erstmal selbst zu erfinden. Das sind alles Einzelbilder, und daraus wurden verschiedene Bewegungsmöglichkeiten komponiert, die sich dann gegenseitig durchdringen, über Brennweiten, 360 Grad, die Bewegung auf der Achse in den Raum hinein. Aber diese Filme, diese schnellen Bildfolgen sind zugleich irgendwie des Teufels, weil sie völlig abstrakt eine Komposition über die Dinge legen. Da steckt eine große Energie drin, auf die ich damals süchtig war, aber es ist eine im musikalischen Sinne abstrakte Energie, die eben nichts zu tun hat mit der Abbildung von Welt, sondern mit einer bestimmten Wirkung, die man erzeugt. Und irgendwann wird das zu einer kleinen Höllenmaschine.
Dann gab es den Übergang zu HOTEL. Das Material ist entstanden während meiner Zeit in Amerika. Ich ging eines Tages in San Diego die Straße entlang, hatte eine Super-8-Kamera dabei, und vor mir gingen diese beiden Personen. Ich hielt die Kamera in halber Höhe, nahe an der Hauswand, und machte, ohne durchzugucken, eine Aufnahme dieser Gehenden. Dann habe ich mir das am Projektor angesehen, und ich hatte plötzlich das Gefühl, daß ich das genau so sehen wollte, wie es sich ereignet hatte - bis in die Komposition des Bildes hinein. Ich habe das dann mit anderen Aufnahmen kombiniert, es bearbeitet, Positiv und Negativ zusammengeprintet, am Schluß die Bewegung umgekehrt und das Ganze so ineinandergefügt, daß zwei Personen zugleich von A nach B und von B nach A gehen. Die ersten Filme be-ruhten auf der „filmischen“ Bewegung, und HOTEL, das ist der Übergang in die Realbewegung.

HANS HURCH: Sie haben über die Jahre hinweg eine Menge Super-8-Material aufgenommen. „Langzeitbeobachtungen von Dingen und Räumen im unterschiedlichen Licht der Städte“, wie Sie das genannt haben. „Eine kleine Enzyklo-pädie des Alltags: Wohnen, Essen, Schlafen, Räume, Straßen, Verkehr.“ Das gesammelte Material wurde dann auf 16 mm aufgeblasen und an der optischen Bank bearbeitet. Diese gespenstisch verdichteten Passagen durch Zeit und Raum tauchen schließlich in den Filmen NORMALSATZ (1978/81) und DIE WIESE DER SACHEN wieder auf.

HEINZ EMIGHOLZ: Das Material ist wunderschön. Man sitzt davor wie vor einem Bild. Es ist ein visuelles Ereignis für sich und wäre fast schon ein eigener Film. Aber das hat mir nicht gereicht. Ich wollte das Ganze in einen Zusammenhang bringen, der zugleich etwas anderes erzählt und der sich außerordentlich grob gegenüber diesem Material verhält, also einen Kontrapunkt setzt. In NORMALSATZ fand ich keinen Platz dafür, aber bei DIE WIESE DER SACHEN wurde es zum Herzstück des Films. Ich wollte das Material einer Einsicht ausliefern, die alles noch einmal vom Ende her erzählt und sagt: „So war’s nun mal.“ Denn das ist ja die Macht des Erzählers, zu sagen: „So war es.“

HANS HURCH: Der Erzähler in DIE WIESE DER SACHEN ist eine Stimme am Telefon, eine Stimme aus dem Jenseits. Er ist ein abgesprungener Terrorist, der nichts mehr mit seinen Freunden zu tun haben will. Er sitzt in einem Hotelzimmer in Vancouver, nimmt Opium und erfindet Märchen.

HEINZ EMIGHOLZ: Im Grunde ist das eine Parodie. Der Erzähler ist tot, und man kann ja auch nur erzählen, wenn man tot ist. Das ist ja der Witz: Die Geschichten kommen zustande, wenn die Ereignisse tot sind. Das Lebendige kommt als Kunstprodukt erst zustande, wenn es tot ist.

HANS HURCH: DIE WIESE DER SACHEN erinnert manchmal an einen Vampirfilm, was wohl von diesen Schatten und Gespenstern herrührt, die durch die Räume ziehen wie durch ein verwunschenes Haus.

HEINZ EMIGHOLZ: Das ist ein Effekt, der durch den Aufnahmeprozeß entsteht, weil ja bei einer Langzeitbelichtung alles, was sich bewegt, verwischt und verschwindet, während alle Sachen sichtbar bleiben, die auf der Stelle stehenbleiben. Es ist wie bei alten Fotografien mit langer Belichtung: Wenn man sich solche Bilder aus dem vorigen Jahrhundert anguckt, tut sich ein realer Raum auf, der voll ist mit Geistern. Ich finde, das hat etwas sehr Bewegendes: Du siehst plötzlich Geister in ihrer täglichen Umgebung, schließst aus deiner Situation auf ein Vergangenes und erlebst, wie Geschichte vor den eigenen Augen zerfällt.

HANS HURCH: Mit der Trilogie NORMALSATZ, DIE BASIS DES MAKE-UP und DIE WIESE DER SACHEN haben Sie sich zwischen alle Sessel einer möglichen Zuordnung gesetzt. Das ist kein klassisches erzählerisches Kino, hat aber doch viele narrative Elemente und inszenierte Spielszenen. Auf der anderen Seite gehört das nicht mehr zum reinen Avantgardefilm, obwohl es auch viele Momente von ihm wieder aufnimmt.

HEINZ EMIGHOLZ: Mit NORMALSATZ kam bei mir der große Bruch mit dem „Avantgarde“-Film. Viele Leute, die meine früheren Arbeiten geschätzt haben, mochten das nicht, weil es in einen psychologischen Bereich hineinging. Mit DIE BASIS DES MAKE-UP ist das dann noch weiter abgedriftet. Und zugleich wurde dieses verquast Deutsche und nahezu Norddeutsche, was in den neuen Arbeiten drinsteckt, immer ausgeprägter. Vielleicht ist damit eine bestimmte Internationalität verschwunden, oder negativ gesagt: das rein Visuelle und Unverbindliche. Die Filme sind eigentlich aus sich heraus entstanden, wie organische Teile, die in einem Prozeß zusammenwuchsen, ohne daß dahinter eine große Absicht stand. Die Idee war, sich dem gesammelten Material auszusetzen und danach zu suchen, was denn da eigentlich erzählt wird, auch ohne daß ich es als Macher intendiert oder überhaupt mitgekriegt habe. So eine Szene liegt manchmal zehn Jahre zurück, und plötzlich kann man mit ihr etwas anfangen.

HANS HURCH: Eine Voraussetzung Ihrer Arbeitsweise ist, daß sie immer selbst für die Kamera verantwortlich sind. Sie haben einmal erwähnt, Bildermachen sei wie Denken, und das überläßt man besser auch nicht den anderen.

HEINZ EMIGHOLZ: Ja, denn durch diese minimalen Verschiebungen des Kamerawinkels oder der Bildfläche, die du siehst, also durch die Arbeit der Fotografie, bringst du die Welt überhaupt erst zusammen. Dadurch verdichtet sich erst, wie du den Raum spürst, in welchem Verhältnis die Dinge zueinander stehen, wie du die Nasenspitze im Vordergrund mit einer Schublade im Hintergrund zusammenbringst. Das ist im Grunde alles sogenannter Inhalt, und ich kann mir nicht vorstellen, daß mir jemand diese Arbeit abnimmt.

HANS HURCH: Sie nennen Kameraarbeit eine „Projektion von Blicken“ oder eine „mit Hilfe der Dinge in die Welt gespiegelte Entscheidung des Blicks“.

HEINZ EMIGHOLZ: Ja, das ist ja genau, was stattfindet. Es ist eine aktive Tätigkeit. Ich mache das auch, wenn ich zeichne: Man guckt die Zeichnung aufs Papier. Und wenn ich drehe, habe ich eine bestimmte Materialität vor mir und baue den Raum im Sehen. Ich glaube, durch die Kamera zu schauen, ein Bild zu gestalten, das hat sehr viel mit Architektur zu tun. Nehmen wir diesen Raum,. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, davon eine Aufnahme zu machen. Wie kommt es, daß ich sofort hingehen könnte und sagen: „Dieser Ausschnitt ist es!“? Der narrative Film bezieht sich auf die Vorstellung einer Vertikal/Horizontal-Fotografie, ausgerichtet an den Gesetzen der Schwerkraft. Damit wiederum hängen bestimmte Anschlußregeln zusammen, wie Bilder zu verbinden seien, um die Illusion eines Raum/Zeit-Kontinuums zu erzeugen. Wenn ich jetzt aber anders in den Raum hineinfotografiere, strahlenförmig, ohne die Achse an der Schwerkraft, also Rahmen und Horizont, zu orientieren, kann ich Dinge zusammenschneiden, die sonst nicht zu verbinden wären. All diese komischen Gesetzmäßigkeiten gehen den Bach runter, und es wird sehr interessant.

HANS HURCH: Wie schaut das in diesem Fall aus? Wie nehmen Sie ein Bild auf, wie bauen Sie eine Szene?

HEINZ EMIGHOLZ: Wenn ich eine Szene drehe, versuche ich mich mit der Kamera in sie hineinzuschrauben. Sagen wir, da sind drei Personen an einem Tisch, dann habe ich das Gefühl, daß ich mich wie über die Windungen eines Schneckenhauses dem Zustand annähere, um den es geht. Es gibt da nicht den Master-Shot, der sowieso schon alles abdeckt, und dann einen Ranschnitt, damit es ein bißchen interessanter wird, wie im klassischen Spielfilm. Es hat eher mit dem Aufbau von Zellen zu tun, wie ich mir eine Szene erarbeite. Aber wenn das Einzelbild nicht richtig komponiert ist, wenn da irgendetwas nicht stimmt, dann hat man eben was im Film drin, das ihn, wie aus einer Zelle heraus, zerfrißt. Aber all das Gerede über „schräge Kamera und gekippte Bilder“ in meinen Filmen ist Blech. Es ist einfach ein Bild, das man sich anguckt, und man muß nicht gleich unruhig im Kinosessel herumrücken und versuchen, den Kopf schief zu halten.

HANS HURCH: Das ironische Motto, das über dieser Trilogie steht, heißt: „Jedes Jahrzehnt hat seinen eigenen Zugang zum Himmel“. Was wäre dieser Zugang gewesen?

HEINZ EMIGHOLZ: Das ist wieder so ein Witz auf die Geschichte. Für mich waren die 70er Jahre total verquast und ideologisch verbohrt. Ich bin froh, daß das vorbei ist. Diese Ekstase an Jugendlichkeit, wo man alles besonders ernst nahm und dachte, da ist alles passiert. Das ist der letzte Blödsinn. Da ist gar nichts passiert.

(aus: FALTER, Wien, November 1990)

Holger Wobker, Hilka Nordhausen, Bernd Skupin Ronald Balczuweit

Mit Gertrude Stein ins Kino

"Welche sonderbare Angelegenheit ist doch die Geschichte! Es ließ sich mit Sicherheit von dem und jenem Geschehnis behaupten, daß es seinen Platz in ihr schon gefunden hatte oder bestimmt noch finden werde; aber ob dieses Geschehnis überhaupt stattgefunden hatte, das war nicht sicher. Denn zum Stattfinden gehört doch auch, daß etwas in einem bestimmten Jahr und nicht in einem andern oder gar nicht stattfindet; und es gehört dazu, daß es selbst stattfindet und nicht am Ende bloß etwas Ähnliches oder seinesgleichen. Gerade das ist es aber, was kein Mensch von der Geschichte behaupten kann, außer er hat es aufgeschrieben (...). Größtenteils entsteht Geschichte aber ohne Autoren. Sie entsteht nicht von einem Zentrum her, sondern von der Peripherie. Aus kleinen Ursachen.” (Robert Musil, Seinesgleichen geschieht oder warum erfindet man nicht Geschichte).
Auch wenn in den Filmen von Heinz Emigholz keine Geschichten mit einem definitiven Anfang und Ende erzählt werden, so wäre der Schluß, daß diese Filme keine Geschichten erzählten, irreführend. Die Unmöglichkeit, den Plot eines Filmes wie NORMALSATZ oder DIE BASIS DES MAKE-UP wiederzugeben, liegt nicht darin, daß es keine Haupthandlung gibt, auf die dann Nebenhandlungen bezogen werden könnten. Die Fäden der stets situativ sich entwickelnden Ereignisse werden nicht nach bestimmten Regeln des Erzählens zusammengewebt. Eher hat man den Eindruck, als würde der Stoff hier aufgeribbelt. Die verschiedenen Stränge, die die zumeist in Bewegung befindliche Kamera auf ihren Erkundungsfahrten durch die Räume des Alltags verfolgt, betonen dies. Das anhand der Filmphotographie beschriebene Prinzip der Homogenisierung der verschiedenen Raumebenen läßt sich auch in den Figurenkonstellationen und der narrativen Struktur der Filme wiederfinden.
Der offene Charakter einer Entwicklung in der Zeit, betreffe er nun die Historie oder auch nur die Geschichte im Sinne der Story, wird für gewöhnlich von einem auktorialen Autor-Subjekt in ein System gepreßt, das die Struktur der Ereignisse, die es zu erklären bemüht ist, zugleich erst herstellt. Die punktuellen Ereignisse werden retrospektiv interpretiert und so in einen kausalen Handlungsablauf überführt. Für die Wahrheit der Geschichte bürgen nicht die Ereignisse, sondern die Identität und Allwissenheit des erzählenden Subjekts. Die ausgeprägteste Form dieser Art von Geschichte bildet der Roman, der nach Gertrude Stein so beruhigend wirke, „weil so viele Leute, man kann sagen jeder, sich an fast alles erinnern können.“ Um die Ereignisse zu ihrem Recht und die Sprache selbst zu Wort kommen zu lassen, bedurfte es des Königsmordes. Die Rede vom Tod des Autors ist spätestens seit den Diskursanalysen Michel Foucaults Allgemeingut geworden. Die Telefonstimme, die zu Beginn des Films DIE WIESE DER SACHEN zu hören ist, hallt wie ein ironisches Echo dieses Todes durch den Film. Ihr Subjekt ist zum Zeitpunkt, da die Stimme von der Ereignissen der Vergangenheit erzählt, bereits verstorben.
Gertrude Stein glaubte an die Fähigkeit des Kinos, die verschiedenen Zeiten und Affekte des Wahrgenommenen einerseits und des Wahrnehmens andererseits derart zu koppeln, daß Vergangenheit und Gegenwart nicht länger sich ausschließende begriffliche Kategorien sind, sondern unentmischbar in Gegenwärtigkeit zusammenfließen.
„Ich selber gehe nie ins Kino oder kaum je praktisch nie und das Kino hat nie mein Werk gelesen oder kaum je. Die Tatsache bleibt daß da derselbe Impuls ist das Problem der Zeit zu lösen in Beziehung zu Emotion und die Beziehung der Szene zur Emotion des Publikums in einem Fall wie im anderen. Da ist derselbe Impuls das Problem zu lösen von der Beziehung von sehen und hören in einem Fall wie im anderen. Es ist kurz gesagt das unvermeidliche Problem von jedem der im Gefüge der heutigen Zeit lebt, das heißt leben wie wir jetzt leben wie wir es haben und jetzt darin leben. Das Anliegen der Kunst wie ich in Composition and Explanation zu erklären versuchte, ist in der aktuellen Gegenwart zu leben, das heißt in der vollständig aktuellen Gegenwart und jene vollständige aktuelle Gegenwart vollständig auszudrücken.“ (Gertrude Stein, Theaterstücke).
Gegenwart und Vergangenheit, Erzählzeit und erzählte Zeit gehen in den Filmen der Trilogie, wie auch später in DER ZYNISCHE KÖRPER, eine unentwirrbare Symbiose ein. Die Erinnerung wird nicht der Kontinuität der Geschichte, der in der Vergangenheit geschehenen Handlung, unterworfen, vielmehr ist die Geschichte der Willkür des Erinnerungsaktes „in der vollständig aktuellen Gegenwart“ ausgeliefert, sie entwirft sich als Erinnertes. Die abstrakten Kategorien der Vergangenheit und Gegenwart, werden auf ihren Affektgehalt zurückgeführt, auf Vergänglichkeit und Gegenwärtigkeit.
Die Trilogie aus den Filmen NORMALSATZ (1978-81), DIE BASIS DES MAKE-UP (1979-84) und DIE WIESE DER SACHEN (1974-87) ist eben in diesem Sinne ein Work in Progress, das weniger eine Geschichte fortschreibt, als vielmehr umschreibt. So taucht in DIE BASIS DES MAKE-UP Material auf, das während der Dreharbeiten zu NORMALSATZ belichtet wurde, DIE WIESE DER SACHEN enthält Material das gar seit Mitte der siebziger Jahre entstanden ist. Aus diesem Grund ist es auch kaum möglich, von Dreharbeiten zu einem bestimmten Film zu sprechen. Nicht welche Bilder eine vergangene Geschichte erzählen können ist von Bedeutung, sondern welche gegenwärtige Geschichte die Bilder selbst zu erzählen in der Lage sind.
In NORMALSATZ, der den Ausgangspunkt bildet, handelt es sich noch um die Gegenwart eines Tages, in DIE BASIS DES MAKE-UP, der auch genau datiert ist, berichtet der Protagonist (John Erdman), schon von der Vergangenheit: „Ich erinnere mich genau. Damals sahen wir noch richtig fern. Ein mehr öffentliches Programm. Endlose Soaps über einen Mercedeshändler, der von achtzehn Engeln, die vom Him-mel kommen, umgebracht wird. In Clonetown, einem kleinen, in der Vergangenheit verlorenen Dorf. Wie schön war damals noch die Illusion der Gesellschaft.“ Dazu sind auf einem Fernsehbildschirm Aufnahmen zu sehen, auf denen die Personen aus NORMALSATZ zu sehen sind. NORMALSATZ, der in seiner eigenen Soap geendet hatte, wird dementsprechend als Fernsehprogramm erinnert. Während die Bilder Wiedererkennbares aus der Vergangenheit vorführen, lassen sich die Bemerkungen Erdmans zu der Geschichte, der sie entstammen, nicht eindeutig einordnen. Aus der Stadt Brookburg ist Clonetown geworden, und von einem Mercedeshändler war bis dahin nie die Rede. Zudem enthält die Stimme, auch wenn sie sich auf die Vergangenheit bezieht, bereits etwas Projektives, auf die Zukunft Gerichtetes: Der Ort von DIE WIESE DER SACHEN wird mit Clonetown angegeben werden, und eine Telefonstimme, wird über die Entführung von Mercedeshändlern berichten. So gibt es in den Filmen der Trilogie statt linearer Entwicklung eines Handlungsstranges ein nicht überschaubares System von Verzweigungen, die sich nicht allein im Raum, sondern vor allem in der Zeit erstrecken, wie in dem „chaotischen Roman“ des Ts‘ui Pên, von dem der Erzähler bei Borges berichtet:
„Die Wendung 'verschiedenen Zukünften (nicht allen)' brachte mich auf das Bild der Verzweigungen in der Zeit, nicht im Raum. Die abermalige Gesamtlektüre des Werks hat diese Theorie bestätigt. in allen Fiktionen entscheidet sich ein Mensch angesichts verschiedener Möglichkeiten für eine und eliminiert die anderen; im Werk des schier unentwirrbaren Ts‘ui Pên entscheidet er sich - gleichzeitig - für alle. Er erschafft so verschiedene Zukünfte, verschiedene Zeiten, die ebenfalls auswuchern und sich verzweigen. Daher die Widersprüche im Roman.” (Jorge Luís Borges, Der Garten der Pfade, die sich verzweigen).
In der ersten Einstellung aus DIE WIESE DER SACHEN sieht man eine männliche Person, gespielt von Eckhard Rhode, einen Pappkarton mit Scherben eines zerbrochenen Spiegels eine Treppe hinauftragen. In den Schichten der Vergangen-heit ist er ein Alter Ego des gespaltenen Protagonisten aus NORMALSATZ und DIE BASIS DES MAKE-UP, in den Gegenwartsschichten der Bilder, der Sohn des ehemaligen Teppichhändlers und Terroristen. Die Einstellung beginnt in einer Aufsicht aus der Halbnahen und ist mit bewegter Kamera gedreht, die sich nicht auf die Person, sondern allein auf den Karton konzentriert. Es folgt ein Schnitt auf Hände, die immer noch die scheinbar wahllos im Karton gehäuften Scherben wie im Puzzlespiel gegeneinander verschieben. Die Suche nach der Vergangenheit beginnt. Über dieses Bild wird der Titel projiziert. Der Spiegel, die machtvolle Metapher für das Sehen und Gesehen-Werden, der stets dazu herausgefordert hat, das Sehen zu reflektieren und zu distanzieren, ist zerbrochen. Wie die Scherben im Karton, so sind auch die einzelnen Szenen aus einem ordnenden Zusammenhang gerissen, bisweilen in Einzelbilder atomisiert. Allein das erinnernde Bewußtsein hält sie zusammen und die dafür in den Dienst genommene Stimme hat dafür natürlich den Preis zu zahlen: das Leben. So wird die Suche nach der Vergangenheit, „wie es war“, von zwei Seiten her angegangen. Eckard Rhode, dem Sohn, muß es dabei von vornherein verwehrt bleiben, die Zusammenhänge zu entschlüsseln. Nicht nur, daß er die Scherben niemals zu einem Ganzen wird ordnen können, vielmehr würde er in dem zusammengesetzten Spiegel nichts als sein eigenes Antlitz, seine eigene Geschichte als tautologisches Konstrukt erkennen. Denn das Ich ist immer nur das Bindemittel unter dessen Zutat Erinnerung zum Lebenslauf gerinnt.
Der Spiegel ist zersprungen, die Verbindung der Fragmente zu einem totalisierenden Ganzen gerissen. Die Stimme, die aus dem Telefonhörer kommt, will niemand mehr hören. „Ach du bist’s. Warte mal, ja. Ich komm’ sofort zurück“, sagt der Angerufene, der den Hörer neben dem Telefon ablegt, um dann zu verschwinden. Aber ob jemand zuhört oder nicht, scheint der körperlosen Stimme egal zu sein. Darüber hinaus erfährt man, daß die Stimme, die zu hören ist, die eines Toten ist, verstorben am 9. Oktober 1979.
Das Telefon, auch eine Art Raum- oder Zeitmaschine wie der Kühlschrank und selbstredend der Film, steht am Beginn einer Reise in die ”Räume der Vergangenheit” (DIE WIESE DER SACHEN). Radikaler noch, als in NORMALSATZ, werden Ton- und Bildräume konjugiert, multipliziert, all das, was sich über die Jahre in den entlegensten Gehirnwindungen abgelagert hat, in die Welt projiziert. In diesem Sinne ist DIE WIESE DER SACHEN kein Portrait der Vergangenheit, sondern eines des erinnernden Bewußtseins und die Stimme nicht das Subjekt der Erinnerung, sondern lediglich ein Element dieses Bewußtseins. Die Stimme des Toten am anderen Ende der Telefonleitung klingt seltsam apathisch wie unter Drogeneinfluß, der bekanntlich auch das Zeit-empfinden aus seinen gewohnten Bahnen werfen kann. Der Klang fungiert hier gewissermaßen als Indiz für die anderen Zeit-Räume, aus denen sie spricht. Auch wenn der Ort am Ende des Films lakonisch als Vancouver ausgegeben wird, ist nicht zu vergessen, daß es sich hier gleichwohl um die Stimme des Fälschens handelt. „Ich hätte diese Geschichte gern verhindert. Aber sie hat sich so zugetragen. Es war Anfang August 1974. Das neue World Trade Center hatte um sich herum ein Überangebot an Büroraum erzeugt. Und genau in dieses Vakuum zogen wir ein.“ Dazu Bilder von menschenleeren, hohen Räumen. Zuerst gibt es ein farbiges Bild von einem langgestreckten Flur, wie er in Büro- oder Hochhäusern zu finden ist. Aus der Tiefe dringt ein grelles Gegenlicht durch ein Fenster, das von den Wänden links und rechts, sowie vom Boden reflektiert wird und die Bilddurchzeichnung der Aufnahme ausbrennt. Die großen Flächen der Lichtreflexe an Wänden und am Boden sind dem Fenster am Ende des Ganges aufgrund ihrer Intensität derart ähnlich, dass eine Unterscheidung zwischen Lichtquelle und Relfektionsflächen nur über ein Wissen um die optisch-physikalischen Gesetze rekonstruierbar ist. Das Licht fällt nicht eigentlich auf die Szene, sondern ist in ihr. Der Bildkontrast ist so stark, dass der perspektivische Raumeindruck nahezu aufgehoben ist und die sichtbaren Gegenstände zurückverwandelt sind in das, was sie auf dem fotografischen Bild zuallererst sind: Sichtbarkeiten, hervorgezerrt durch die Spuren des Lichts. Die Mitte des Bildes ist von großen Lichtflecken gefüllt, die nichts als Helligkeit erkennen lassen, das Bildzentrum entleeren, ein Vakuum in ihm erzeugen.
Daß die Ereignisse, von je unterschiedlichen Stand-punkten aus betrachtet auch in einem je anderen Licht erscheinen, ist in den Filmen der Trilogie buchstäblich ins Bild gesetzt. Die Farben, vor allem das häufig auftauchende Rot, das am Ende, wenn Eckhard Rhode in dem Buch mit den Teppichmustern blättert, auf das gesamte Bildfeld übergreift, tränken die Bilder mit Stofflichkeit, die Lichter zehren an ihr. Die Langzeitaufnahmen verflüchtigen die Personen zu bloßen Schattenbildern, deren Existenz im Auftau-chen und Verschwinden, als eine zeitliche beschrieben wird. Daß hier Anwesenheit und Abwesenheit nicht länger zwei einander ausschließende Größen sind, verweist auf eine vom herkömmlichen Zeitverständnis verschiedene Form. Zeit ist in ihrem Verhältnis zu den Körpern und Dingen kein Rahmen, in dem sie gefangen wären. Vielmehr sind sie von ihr untrennbar, mit ihr durchsetzt, ihr ausgeliefert. Sie existieren nicht in der Zeit, sondern sind selbst diese Zeit. Die Autonomie der Bilder, die dem Diskurs der Stimme sich nicht mehr unterordnen, die diese Stimme allerhöchstens noch zu streifen vermag, verwandelt die Erinnerung in ein entpersonalisiertes Bewußtsein. Sie ist somit eher ein Affekt, der sich von den Handlungen abgespalten hat, die ihm vormals einen Halt gaben.
„Die Räume der Vergangenheit. Darin: unsere Geister“, sagt die Stimme. Die Langzeitbeobachtungen von Körpern, Gegenständen und Lichtverhältnissen in Räumen, die mal kontinuierlich gleitend, wie der Zug der Wolken zu Beginn von DIE BASIS DES MAKE-UP oder die über einen Tag sich wandelnden Schatten auf Hausfassaden, mal stotternd und sprunghaft auftauchen wie die sich in Räumen verschiebenden Gegenstände und Körper, zeigen deutlich, daß hier Bewegung und Veränderung nicht allein in der Zeit stattfinden, sondern durch die Zeit. Die häufig auftauchenden Langzeitaufnahmen raffen daher die Zeit im Grunde nicht, da es keine homogene und chronologische Zeitvorstellung gibt, auf die sie sich beziehen könnten. Es handelt sich nicht um die geraffte Form einer homogenen und allgemein gültigen Zeit, sondern um verschiedene Zeitqualitäten. Die geraffte Zeit ist die Zeit der Erinnerung, ihre Dauer.
Statt daß die Figuren Handlungen oder Bewegungen beschrieben, in der Zeit und im Raum agierten, ist es in den Spielfilmen genau umgekehrt. Die Bewegungen und die Zeit als Dauer beschreiben die Figuren. Die Bilder entspringen keinem individuellen Bewußtsein, das als deren Quelle angesehen werden müßte, vielmehr konstituiert sich dieses Bewußtsein in der Verzeitlichung und Bewegung der Bilder und Töne. Die Stimme des Verstorbenen aus DIE WIESE DER SACHEN repräsentiert demnach auch kein einheitliches, erinnerndes Subjekt, sie bildet lediglich ein Element eines umfassenderen Bewußtseins, das der Film konstituiert. Das akustische Off ist in den Filmen seit NORMALSATZ kein umschließendes Äußeres, sondern eine Differenzierung, eine Phasenverschiebung im Innern der Bilder. Die nicht-synchronen Töne und Wörter zirkulieren in den Bildern und bilden ständig neue Konstellationen. Wie auch jene Stimme in NORMALSATZ, die mit einer Drehung am Schalter des Was-serboilers verstummt, oder die Musik des Liedes ”Deep Purple“ im selben Film, die ihren Weg von einem Fernseh-gerät, durch die Straßen Brookburgs, bis in einen Kasset-tenrecorder findet. Die Lokalisierungen und Identifikatio-nen sind, wie die Geschichte selbst, stets an ein „Nachher” gebunden, das in den Filmen nur als vorläufiges vorkommt, sich stets aufs neue differenziert und somit ein Labyrinth von möglichen Beziehungen etabliert. Daß nur einige dieser Beziehungen explizit werden, tut der virtuellen Unabschließbarkeit der möglichen Beziehungen keinen Abbruch.
„Ich bin nie dort, wo und woraus das Bild entsteht, weil ich immer dorthin unterwegs bin. Das Bild ist auf einer anderen Linie dorthin unterwegs, als das, was ich meinen 'Körper', mein 'Bewußtsein', meine 'Erinnerung' nenne. Es ist so unterwegs, daß es das, was ich in Körper, Bewußtsein, Erinnerung, Vergessen unterteile, so zusammenfaßt, daß ich sein Dorthin nur dann erkenne, wenn ich Teile von ihm unter dem Aspekt des Körpers oder des Bewußtseins oder der Erinnerung oder des Vergessens buchstabiere, aber dann sehe ich nicht mehr das Bild als Feld, Raum einer ungebrochenen Bewegung, so gebrochen das Bild sein mag, sondern ich buchstabiere Teile meines Körpers, meines Bewußtseins, meiner Erinnerung, meines Vergessens; (...).” (Theo Kneublüher, Denklage des Sehens).
Die Suche nach der Vergangenheit, der Weg, der im Geflecht von Erinnerung und Vergessen zurückgelegt wird ist nicht Mittel, sondern eigentlicher Zweck. Die Ereignisse der Vergangenheit liegen ungeordnet vor wie die Scherben in der Kiste aus DIE WIESE DER SACHEN. Während der Langzeitaufnahmen gibt es einen Zwischenschnitt auf Eckhard Rhode, der auf einem Dachboden voller Gerümpel große Blechbuchstaben hervorkramt. Auf der Tonspur waren bereits die vom Wühlen in den außer Gebrauch gekommenen und auf dem Dachboden verstauten Gegenständen verursachten Geräusche zu hören. „Die Asche vergangener Möbel“, sagt die Stimme. Wenn das Bild wieder zu den Langzeitbeobachtungen zurückspringt, bleiben die metallenen Geräusche auf der Tonspur erhalten. Die Stimme kramt in den Erinnerungen, wie Eckard Rhode in den zurückgebliebenen Gegenständen auf dem Dachboden. Und so wie er einige Teile hervorzieht, ohne daß eine Finalität der Handlung deutlich würde, werden auf dem Bild im Fluß des Zeitlaufs die Schemen von Personen, Möbeln und Zimmern erkennbar, ohne sich zu einem geschlossenen Ganzen zu gruppieren.
Statt Bildern aus der Vergangenheit sehen wir „reale Spuren von Abwesenheit“ (Frieda Grafe), wenn die Aufnahmen von Eckhard Rhode, der aus dem Gerümpel Blechbuchstaben hervorzerrt, zunächst als Negativ auftauchen. Wie das Vergessen das Komplement der Erinnerung ist, ihr nicht als Gegenteil gegenübersteht, so haben auch die Bilder zwei Seiten. Es sind Bilder der Erinnerung und des Vergessens. Die Erinnerung nicht von ihrem Inhalt, sondern von ihrem Wesen her zu denken, bedeutet sie aus ihrem dichotomischen Verhältnis zum Vergessen zu befreien, beide als Teile ein und derselben Bewegung, die das Bewußtsein ausmacht, zu fassen. Die Erinnerung ist nur der Abdruck, den das Vergessen zurückläßt.

Stuhl, Hudson Street 100, N.Y.C., 1974Bettina Klix / Sebastian Weber

Eine Nachsaison in der Hölle

I

Es gibt Filme, die kommen nur in Gedankensprüngen voran. Das heißt: Sie schaffen sich ihre eigenen Hindernisse. Oder, als Vorurteil formuliert: Sie sind nur mit sich selbst beschäftigt. Daß dieser Befund kaum noch laut wird, ist leider kein gutes, sondern ein schlechtes Zeichen. Denn das verdächtigte Denken, das sich eben nicht darauf beschränkt, bereits Gedachtes illustrieren oder recyceln zu wollen, kommt in Filmen kaum noch vor. Was dann bleibt, sind allenfalls leidlich kritische Gedanken, die über den Bildern in Stellung gehen, am liebsten in der Sprache einer sich selbst durchschaubar gewordenen Mythenhörigkeit.
Denken im Film dagegen, das sieht etwa so aus, daß sich nichts folgerichtig aus dem andern ergeben muß und doch alles miteinander in Kontakt steht. Alles, Räume und Dinge, Körper und Sätze. "Jeder denkt alles, alles (denkt) jeden", ein Normalsatz aus dem gleichnamigen Film von Heinz Emigholz. NORMALSATZ, ein Spielfilm aus dem Jahr 1981, bildet zusammen mit seinen beiden Nachfolgern, DIE BASIS DES MAKE-UP (1985) und DIE WIESE DER SACHEN (1987), eine Trilogie. So reich an Komplikationen diese Filme sind, mußten sie wohl einsam bleiben. Mag sein, daß sie eine Art trotziger Selbsteinschließung betreiben, aber was heißt das schon? Jedenfalls sehen sie nicht so aus, als hätte diese Unterstellung sie jemals peinlich berühren können. Von daher sollte eine Erörterung dieser Filme die Schwierigkei-ten, mit denen sie sich ausgestattet haben, mit zu Wort kommen lassen; sie gehören einfach dazu und es wäre ganz vergeblich, sie wegdenken zu wollen. Könnte man sich genauer an die erste Phase des Kennenlernens erinnern, würde einem sicher wieder einfallen, wie das, was einen sofort angesprochen hat - etwa die architekturkritische Fernsehsendung „1000 Häuser“ in DIE WIESE DER SACHEN, umstellt blieb von Mißverständnissen, Verwechslungen, Aussetzern, Ablenkungen.
Die Schwierigkeiten ändern sich, freilich ohne zu verschwinden. Immerhin lernt man sie mit der Zeit besser kennen. Zunächst hat man allerdings genug damit zu tun, Situationen, die dort anzutreffenden Leute und deren Beziehungen, zu mustern. Erstmal ziemlich ahnungslos, fragt man sich, was vom gerade Geschehenen für den weiteren Verlauf des Films, entscheidend, aufschlußreich oder sonstwie wichtig werden könnte. Auf Antwort wartend, kann einem schnell entgehen, wie der Film unterdessen schon wieder woanders angekommen ist und etwas, erstmalig oder erneut, auftaucht, daß später noch einmal eine Rolle spielen könnte.
Die Filme sind so eingerichtet, daß laufend Situationen vorkommen, die das Sehen ins Stocken geraten lassen. Gebremst durch die Frage, was denn jetzt aufgelesen und bis auf Weiteres mitgenommen werden sollte. Kein Wunder also, daß einem bei all den, meist namenlosen, Leuten, die man im Lauf der Filme in wechselnden Konfigurationen antrifft, doch nie so recht klar wird, was hier eigentlich vorgeht. Nicht, dass es überhaupt keine Informationen gäbe. Verstörend wirkt eher, daß Angaben zu Person und Lebensumständen ihren Dienst als Erklärungen versagen. Stünden die für das Tun und Lassen der Figuren maßgeblichen Gründe, Zwecke, Motive auf Abruf bereit, sähe alles ganz anders aus.
Selbstverständlich gibt es Worte, mit denen man die Filme erkennungsdienstlich behandeln kann: Sie spielen in einem Künstlerbohèmemilieu. Ein Umstand, der in DIE WIESE DER SACHEN, vor dem Hintergrund von Gentrification in Manhattan, als sozioökonomische Tarnidentität ausgegeben wird: "Unser Vermieter hielt uns für Künstler. Für ihn hatten wir nur eines im Sinn, nämlich Farbe auf Leinwände zu pinseln. Geheiligter Schwachsinn des Ausdrucks."
Dokumentiert wird die Inkubationsphase der 80er Jahre. Der neuen Kälte verpflichtet lebt man in einer New Wave Version von Armut, aber ohne daß von den Stilisierungen des Nachtlebens viel zu sehen wäre. Die jungen Männer ha-ben kurze Haare und die Frauen wirken ernüchtert. Es sind Leute, die man dabei sieht, wie sie zu Hause allen möglichen Tätigkeiten nachgehen: Oft zu mehreren in einem Raum arbeiten sie, schreiben, reden, essen, hängen herum oder sehen fern. Die meisten Dinge in dieser Umgebung, die Tische, Stühle, Lampen, ebenso wie die Schreibmaschinen, Fernseher, Kühlschränke, sehen verjährt und damit entwertet aus - Gegenstände aus der Warenwelt, die hier auf ihre alten Tage ein Asyl gefunden haben. Das neueste Gerät in der New Yorker Wohnung von NORMALSATZ ist ein Anrufbeantworter.
Beobachtungen wie diese lassen sich ohne weiteres fortsetzen. Nur entgeht einem dabei, was die Filme tun, um den Worten, die sich beim Zuschauen an sie heften, gleich wieder zu entgleiten. Nehmen wir eine Szene aus DIE BASIS DES MAKE-UP. Eine Frau und ein Mann, die für uns zu diesem Zeitpunkt schon keine Unbekannten mehr sind, treffen sich zum Essen. Vorher wollen sie noch ein bißchen mit dem Expander trainieren. Schon fragt man sich, wie die beiden eigentlich zueinander stehen, und unversehens drängt sich die Vermutung auf, die beiden seien ein Paar. Oder, wenn schon kein Paar, dann doch so etwas wie die vorübergehend auflebende Erinnerung daran. Was sie sich in immer neuen Gedankensprüngen zu sagen haben, kommt mal dieser, mal jener Vermutung näher, aber so wie die beiden da ins Bild gesetzt worden sind, machen sie nicht gerade den Eindruck,
als seien sie dazu da, irgendeine der Vermutungen, die man über sie anstellen mag, zu bestätigen. Selbst auf dieser Kurzstrecke multipler Zweisamkeit werden die einzelnen Zutaten genauso schnell wieder abgetragen wie die Mahl-zeit aus flambierten Kartoffeln. Unter anderem gibt es fallengelassene Selbstmordgedanken, Scheidungsgeschichten, Bücherverbrennung, small talk, Sportsfreundschaft, Beziehungsdreieck mit Erniedrigungsspiel, Überspanntheiten, Sondierung eines neuen Liebhabers ...
Wahrscheinlich fällt zuerst an der zersplitterten Sprache der Figuren auf, in wieviele Richtungen das Innenleben solcher Situationen sich ausbreitet. Diese ähneln Zusammen-treffen oder Ansammlungen, zu denen sich neben den an sich schon äußerst heterogenen Sprachteilen aber noch eine ganze Menge anderer Elemente eingefunden haben. Tritt eine Geste oder eine Äußerung hervor, um die Situation an sich zu reißen, so bedarf es nur eines destabilisierenden Schnitts, und schon stellt sich heraus, daß daneben noch Platz genug für die eine oder andere Überraschung ist, um diesen Herrschaftsanspruch auf ungeteilte Aufmerksamkeit wieder zu entkräften. Zwangsläufig führt das zu Enttäuschungen auf den zweiten Blick und die Freude des Wiedererkennens sieht sich verdorben. Gut für Verstörun-gen ist sicher auch die doppelbödige Verständnishilfe, daß am Anfang eines jeden der Filme schriftliche Angaben zu Ort und Datum des Geschehens gemacht werden. Aus Brooklyn und Hamburg, den Schauplätzen von NORMALSATZ, macht der Film ein Kompositum namens Brookburg am 30. April 1975 (Ende des Vietnamkrieges). Im Verborgenen bleibt dagegen die Lage des Schauplatzes von DIE BASIS DES MAKE-UP: "Das Land Belgien" - eine betont vage gehaltene Auskunft für einen Film, der auf engstem Raum spielt. In DIE WIESE DER SACHEN sind es wieder die zwischen New York und Hamburg springenden Bilder, die dieser Film in einem Gedächtnisraum versammelt, der den Namen "Clonetown" trägt. Auch wenn es erst im Nachhinein klar wird, aber genau genommen weisen einen all diese Ein-gangsmarkierungen darauf hin, daß man hier jedesmal vor der Konstruktion eines aus realen Schauplätzen eigens zusammengesetzten Zeitraums steht.

II

Daß der Kamerablick sich hier seinen eigenen Raum baut, ist sozusagen Programm. In einer entsprechenden Äusserung von Emigholz heißt es: "Die besondere Architektur eines Blicks ersetzt aufwendige Bauten. Eine in der Kamera mitgefühlte oder kontrapunktierte Bewegung, eine ohne Blickwinkelstandards konstruierte Beziehung der Einzelteile auf dem Bildfeld verwandelt jede äußere Realität in ei-ne vom Blick erbaute." (KRIEG DER AUGEN, KREUZ DER SINNE)
Es handelt sich um einen leicht gespaltenen Blick, der staunend registriert, was er eben gerade, mit massiver Unterstützung seines Körpers, angerichtet hat. Schon durch die Rahmung der Bilder, die Kadrage, kommt es ständig zu krassen, unverhohlenen Eingriffen in das, was zu sehen ist. Es wird abgeschnitten und schräg gestellt, gekippt und umgelegt. Der Zugang zum Bildraum scheint wie durch eine Barriere versperrt, die, wie man sich vielleicht vorstellen kann, nur unter Verrenkungen überwunden werden kann. Ist das geschafft, läßt ein zweites Hindernis selten lange auf sich warten. Denn so wie die Einstellungen sich gegeneinander abschließen, gestalten sich die Übergänge beschwerlich. Nirgends eine Einführung oder Überleitung, die man unmöglich verpassen kann. Ohne daß viel passiert wäre, sieht immer mal wieder plötzlich alles ganz anders aus. Un-vermittelte Auftritte lassen die Figuren dastehen oder sitzen wie Möbel. Sie befinden sich im Raum, ohne daß ihr Weg dorthin gezeigt würde. Ihre Begegnungen und Berührungen sind oft überraschend, ebenso Ausrufe - weder Gestik noch Mimik haben sie vorher im Bild angekündigt. Wer spricht, ist deswegen noch lange nicht zu sehen; wer sich bewegt, noch lange nicht zu hören.
Für das, was traditionell unter Handeln verstanden wird, ist hier kein Platz. Die Figuren sind anderweitig beschäftigt, mit und in einer von familiären Bindungen freien Privatsphäre, einer Alltagswelt, deren Darstellung garnicht erst den Anschein zu erwecken versucht, hier könne jemand in der Verfolgung hoch gesteckter Ziele sein Leben exemplarisch steigern oder scheitern. Und auch die ganz alltäglichen Geschichten, die sich dort ja trotzdem abspielen mögen, sehen sich auf Andeutungen beschränkt; sie rangieren sozusagen unter ferner liefen. Dort, wo die persönlichen Geschichten sich zurückhalten, drängen die Dinge darauf, eine aktivere Rolle im Bildraum zu übernehmen. Durch ihre Linien, Farben, Volumen, Flächen, Kanten, Ecken setzen sie die Bilder eigenmächtig unter Spannung, was manchmal schon an Kippfiguren erinnern kann. Die Stellung der Ka-mera erlaubt es einer runden Tischplatte so auszusehen, als rolle sie gerade ins Bild hinein, aber auch so, als würde sie gleich wieder hinausrutschen wollen. Vom Bild wird das Ding in die Lage eines namenlos gewordenen Fremdkörpers versetzt, es ist dabei, den mit seiner Wahrnehmung vormals verknüpften Tätigkeitsanmutungen zu entgleiten und läßt zugreifende Blicke mit leeren Händen zurück.
Das alles spielt sich in Räumen ab, in die man sich kaum anders als mit dem Gefühl vertiefen kann, keinen festen Boden mehr unter den Füßen zu haben. Eine Bewegung wie in Behältern - eine dunkle Truhe oder Höhle (DIE BASIS DES MAKE-UP), wo sich der Blick nur unter langsamen Vorantasten bewegen kann, dann wieder ein Wasserbecken, ein Aquarium, mit direktem Abfluß in das städtische Häuser-meer (NORMALSATZ), wo der Blick ins Schwimmen kommt.
Für diese schwimmenden, schwebenden, tastenden Vertiefungen in den Raum sind die Bewegungen der dort anzutreffenden Figuren nicht maßgeblich. Es gibt Naheinstellungen, da wirken ihre Körper wie aus dem Gefüge des Rau-mes herausgesprungene und ihm dennoch verhaftet gebliebene Teile. Jemand an einem Tisch sitzend, der vor einem Kühlschrank steht, kann so wie Teil einer Montage aussehen, eines Zusammentreffens mehrerer Bilder in einem. Genau das Richtige also, um den Eindruck zu vereiteln, die Figuren stünden unserer Anteilnahme voll und ganz zur Verfügung. Gerade weil sie es nicht tun, können sich die Tätig-keiten, Verrichtungen, Berührungen, mit denen sie beschäftigt sind, von ihrer körperlichen Seite zeigen. Also physisch. Körper treffen aufeinander, wobei sich die Bilder Immer wieder wie Versuchsanordnungen für sehr eigenartige Körperkontakte darstellen. Der Küchentisch in DIE BASIS DES MAKE-UP beispielsweise beschreibt so einen Ort: Kartoffeln, ein Ei, die Zeichnung davon, die Fallbewegung, der schwarze Schuh neben dem Stuhlbein, das Zertreten des Eis ... - hier, oder auch in der Szene aus NORMALSATZ, wo Nägel aus Eisen in eine Badewanne mit Wasser gekippt werden, in der schon jemand sitzt, macht sich, augenblicksweise, eine Aggressivität bemerkbar, die an Spielarten des Happenings erinnert. Es ist eine Aggressivität, die sich im Verhalten von und zu bestimmten Materialien äußert und die besonders dort ins Auge sticht, wo einem vorgeführt wird, wie Tast-und Geruchswerte von Fleisch, Schnaps, Milch, Schlamm den Gebrauch, den die Körper der Figuren voneinander machen, begleiten bzw. diesen erst richtig ausmalen. Anders, skizzenhafter, wenn man so will, fällt die Wirkung aus, wenn die körperlichen Berührungen nur kurz dauern und dabei so aussehen, als würden sie sich wie präzise prüfende Griffe anfühlen. Hier geht es dann nicht mehr um Überbrückungen zwischen fremden und dem eigenen Fleisch, sondern darum, die Knochen auf die Probe zu stellen.
Damit all diese Bewegungen im Reich von Körpern, Fleisch und Knochen sich entfalten können, muß die Zeit, die ihnen eingeräumt wird, etwas Gedehntes oder Schleppendes bekommen. Am Ende von DIE WIESE DER SACHEN, wenn der Film in einer Scheune zwischen Stroh und gestapeltem Männerfleisch seine Endstation erreicht hat, läßt sich diese Zeit hören - in einem Song, der klingt als werde er zu langsam abgespielt, im Refrain unendlich müde die "Love is strange", nicht verwundert, nur erschöpft.

III

"Ich hätte auch gerne einen Körper gehabt." Ein Satz aus DIE WIESE DER SACHEN, den man schwer vergißt, vielleicht weil er einen jener Momente im Denken betont, wo es kurz davor steht, auf Abwege zu geraten. Wer sich diesen Satz zueigen machen wollte, müßte immerhin schon so weit sein, Bedauern darüber äußern zu können, nicht auch schon bei den Toten zu sein: Statt nach wie vor einen Körper zu haben, endlich fertig mit ihm zu sein, ihn gehabt zu haben. Im Film wird der denkwürdige Satz einer Figur in den Mund gelegt, die ihn vielleicht gar nicht persönlich nimmt, sondern gleich weiter reicht - als höhnische Totengabe für jemanden, kurz bevor sie (verkleidet als Mann) bei lebendigem Leib in einem Grab verscharrt wird.
Körper, das ist hier ein Ort, der gleich zweifach heimgesucht wird. Im Kreuzfeuer der Bilder und Sätze: Der Bilder, die es auf ihn abgesehen haben und die ihn ans Licht bringen. Der Sätze, an denen er schwer zu schlucken hat und in denen er sich Luft verschafft. "Heute, beim Anblick deines Liebhabers, wäre ich vor nicht stattgefundener Empfindung und Langeweile fast zusammengebrochen" aus DIE BASIS DES MAKE-UP ist solch ein Satz. Gesprochen von einer Stim-me, während der dazugehörige Körper dabei zu sehen ist, wie er sich in den Krämpfen einer Erinnerungshölle zwischen Perserteppichen windet.
Kein Film der Trilogie, durch den nicht Stimmen geisterten, die sich von den Angelegenheiten des Körpers lossagen. Sie sind nahe dran, keinen Körper mehr zu haben. Wie lädiert auch immer, hat in diesen Stimmen die Instanz eines Ich-Erzählers überlebt. In DIE BASIS DES MAKE-UP ist es die Stimme von John Erdman, jemand, der hier als Hauptdar-steller noch anderes zu tun hat als die Rolle des Erzählers zu spielen und das Ende des Films nur ziemlich angeschlagen erreicht. Dagegen stellt sich die Erzählerstimme in DIE WIESE DER SACHEN ohne Umschweife als die eines Toten vor. Zurückgezogen von den Körpern hat er im Telefon, das einsam daliegt und wie ein Embryo ausschaut, ein Medium gefunden, um seinen Text durchzugeben. Als Eröffnung gleich ein Schlüsselsatz: "Ich hätte diese Geschichte gern verhindert". Das klingt auf absurde Weise kokett. Aber, Selbstreferentialität verpflichtet, und zwar gleich doppelt: So widerwillig die Erzählung der Geschichte wirkt, kann man sagen, daß sie nicht nur erzeugt, sondern eben gleichzeitig auch dementiert wird.
Daraus, daß nur die Toten, wie es einmal heißt, "eine richtige Geschichte mit einem Anfang und einem Ende erzählen" können, ergibt sich ein Auftrag, den in diesem Fall jemand nur mit einigem Widerwillen nachkommt. Von sich reden macht dieser Widerwille in Schlußstrichgesten, die noch einmal eigens bekräftigen, daß hier für jemanden schon alles gelaufen ist: "Die Menschen als zu Lebzeiten abgestossene Leichenteile einer sich auf ewig weiter teilenden Gesellschaft." Das ist, wie vieles aus dieser Zeit, nahe am nihilistischen Kitsch, wollte man es wörtlich nehmen. Im Licht dessen, was man von den Beziehungen der Figuren überhaupt mitbekommt, stellen sich solche Äußerungen aber wieder anders dar, weniger exponiert.
Denn das, worin man sich eigentlich die ganze Zeit befindet, das ist Nachsaison. Mit all den Überbleibseln dessen, was einmal zwischen ihnen gewesen sein mag: Erinnertes Scheitern, Gleichgültigkeit, Larmoyanz, Wut, Ekel, Erschöpfung, und eine Sehnsucht, die sich jeder Personalisierung entzieht, die überall und nirgends ist. Es sind jedenfalls starke Gefühle für ein nicht näher bezeichnetes, wahrscheinlich aber männliches Du, von denen die bereits erwähnten Erzählerstimmen bewegt werden. Ein Du, das sie in seiner Namenlosigkeit direkt ansprechen, ohne daß es sich jedoch unter den sichtbar werdenden Figuren, die als Kandidaten für eine Verkörperung überhaupt in Frage kommen, als solches zu erkennen gäbe. Erst das Du und schließlich, in DIE WIESE DER SACHEN, auch das Ich spielen vor allem als Sprechwesen eine Rolle. "Ich kann mich nur noch vage an mich erinnern", hört man die Telefonstimme einmal sagen, während gleichzeitig zu sehen ist, wie jemand mit dem Zerlegen von Möbeln beschäftigt ist. Was ihre Verkörperung betrifft, so erspart ihnen das eine eindeutige Festlegung. Und auch der Sex bleibt vielverspreched und stumm; tritt er in Erscheinung, wie in einer besonders schönen Szene von DIE WIESE DER SACHEN, dann verfangen in einer Art Suchbild: unter der Diaprojektion einer Zeichnung tauchen eine Brustwarze, ein Auge, eine Hand auf.
Letztlich ist diese Sehnsucht so beschaffen, daß sie sich auf keinen bestimmten Körper konzentrieren kann. Wenn sie ein Objekt hat, dann sind es die Filme selber. Diese spielen sich ab in Räumen, die so aufgenommen worden sind, als hätten die Gefühle und Sehnsüchte der Bewohner dort einen Abdruck hinterlassen, den sie in seiner ganzen Vergänglichkeit festhalten können.
Jede Kunst hat ihr eigenes Verhältnis zum Tod. Kino, so der berühmte Satz von Jean Cocteau, heißt dem Tod bei der Arbeit zuschauen. Emigholz wandelt diese Idee dahingehend ab, daß der Tod selber zum Zuschauer wird. Die Produktivität des Todes fällt so aus, daß alles, von der Kaffeetasse bis zum Gesicht, in dauerndem Kontakt mit Verbrauch oder Verschleiß steht. Denn das Besondere an der Sichtbarkeit, zu der Körper und Dinge hier gelangen, ist ja gerade, daß sie die ihrer Vergänglichkeit ist. Was sichtbar wird, wird es immer auch als Versteck oder Verkleidung eines Todes, der da lebenslänglich, von Anfang an, in Wartestellung verharrt.