Hotel

Hotel Hotel

Der Titel des Films ist eine Hommage an die Titel der Shows von Jack Smith, ›Lucky Landlordism of Rented Paradise‹ zum Beispiel, besonders aber an ›Horrror of the Rented World‹, sein Auftritt im Collective for Living Cinema 1975. Weise Einsicht dieser Zeit war der verbockt bis zärtlich an jeden Ort der Welt geheftete Spruch: "I am a tourist here myself."

1975/76
16 mm, s/w, Originalton und stumm
27 Min. (24 B/Sek.)

Regie, Konzept, Kamera, Schnitt, Produktion: Heinz Emigholz
Ton: Marcia Bronstein
Darsteller: Silke Grossmann, Heinz Emigholz
Drehorte: San Diego, Manhattan, Hamburg
Drehzeit: Herbst 1974 - Mai 1976
Filmverleih: Freunde der Deutschen Kinemathek
Videovertrieb: Filmgalerie 451

Uraufführung: documenta 6, Kassel, 26. August 1976

„Das Gehen, die Straße.
Die Draufsicht, die Verfolgung.
Der Stand, die Totale.
Das Fenster, Innen und Außen, der in der Zeit verdoppelte Raum.
Der Positiv-Negativ-Raum, die Zeitversetzung.
Die Raumspiegelachse.
Zeitumkehrung, Zeitvergleich.

Der Film ließe sich in sieben Abschnitte aufgliedern. Die Abschnitte 1 bis 3 führen ein bestimmtes lineares Material ein, das in 5 bis 7 in bearbeiteter Form wieder auftritt. 4, der Tonteil, bildet den Übergang zwischen der Linearität (zeitliches Nacheinander im Aufnahmevorgang) von 1, 2, 3 und der Simultaneität („gleichzeitige“ Anwesenheit in unterschiedenen Räumen, Zeitvergleich) von 5, 6, 7.

Grobstruktur des Films:

1 - Lineare Einstellung (t0...t1), gehende Kamera, starke Zeitlupe, starke Raumkoordinaten (Winkel Hauswand-Straße), zwei Gehende.)

2 - Eine Sammlung von Einstellungen (von oben aus dem Fenster auf die Straße), Teleobjektiv, Kamera verfolgt sich bewegende Teile, starke Zeitlupe.

3 - Starre Totale (von oben aus dem Fenster), Straße; starke Zeitlupe lässt bewegte Teile proportional zur Eigengeschwindigkeit mehr oder weniger weite Raumsprünge vollziehen.

4 - Zwei in der Bildschärfe unterschiedene Einstellungen: Innenraum mit Ausblick auf unten liegende Straße: 4a - Schärfe auf Innenraum, 4b - Schärfe auf Strasse. Die Schärfedifferenz ist minimal, aktualisiert sich jedoch am Schluss von 4, wenn a und b im Wechsel von drei Einzelbildern „ineinanderliegen“, in einem kleinen Brennweitensprung (Zoom-effekt). a ist "Synchronton Innen" zugeordnet, b "Synchronton Aussen". Von beiden Einstellungen wurde je ein Take gemacht, die
dann kontinuierlich beschleunigt ineinandergeschnitten wurden (unter Wegfall der jeweils von der anderen Einstellung eingenommenen Zeit).

5 - ist eine Bearbeitung von 3, der Schnitt-Rhythmus aus 4 (Ende) wird ohne Ton beibehalten. 3 jetzt in je drei Bilder positiv, drei Bilder negativ nacheinander „ineinander“ gesetzt; beide (Negativ und Positiv) linear fortschreitend, das Negativ zum Positiv zeitlich versetzt.

6 - Ausgangsmaterial 2 seitenverkehrt ineinanderkopiert (jeweils vier Bilder „rechts-links“ gefolgt von vier Bildern der gleichen Situation „links-rechts“).

7 - Könnte man bei 6 von einer vertikalen Bildspiegelachse sprechen, an der entlang sich die Dinge in ihrer Bewegung dennoch linear fortsetzen, so gibt es in 7, einer Bearbeitung von 1, eine Spiegelachse in der Zeit: Der Vorgang „Vorwärtsgehen“ (t0...t1) wird umgekehrt mit sich selbst kombiniert , so daß (t0...t1) „gleichzeitig“ mit (t1...t0) stattfindet (t1/2 = Spiegelachse in der Zeit).

Die Beschreibung bleibt auf dieser Ebene sehr grob; zum Beispiel differieren die Zeitlupengrade zwischen 1, 2 und 3 stark untereinander, auch zwischen 1 und 7, 2 und 6, 3 und 5; es handelt sich nie um gena zeitidentisches Material. Das Ausgangsmaterial selbst spielt die entscheidende Rolle...

Zeitlinearität und Kausalität aufsprengen,
Gleichzeitigkeiten herstellen,
Räume und Bewegungen konjugieren.“

Aus: Katalog FILM ALS FILM, Köln 1978


Kritiken

"HOTEL is in three sections. In the first, a hand-held camera follows two men walking on a desolate urban street. During the filming, the filmmaker tracked behind the men, walking at their pace, filming in slow motion, and making extremely rapid, small reframing jiggles, with the camera. We see the men walking very slowly; we have a sense that the camera is also moving forward in slow motion, yet the reframing movements appear to be at normal speed. This disjunction between the speed of the tracking and the speed of the reframing is disorienting. The street takes on an anxious science-fiction quality.“
Amy Taubin, THE SOHO WEEKLY NEWS, 1. Februar 1979

„HOTEL ist einer der klarsten und zugleich schönsten Filme, die je über Zeit im Film entstanden. In mehreren Episoden durchbricht Emigholz zeitlich lineare Aufnahmen, indem er sie in Teile zerlegt und diese Teile erkennbaren Mustern folgend ineinander montiert.“
Peter Tscherkassky, IM OFF DER GESCHICHTE, 1990

"Erst mit dem Film HOTEL, dessen Mieter so anonym bleiben wie die Stadt, entdeckt Emigholz den Ton. Dieser gab im besonderen das Problem des perspektivischen Standpunktes auf, das im Kino in der Regel gleich von mehreren technischen Ohren gelöst wird, worüber einem Sehen und Hören vergehen kann. Und kaum tauchen die Töne auf, werden sie einem schon um die Ohren geschlagen; das macht der Gemütlichkeit bei einem Frühstück am Küchenfenster, zumindest vom Kino aus gehört, ein Ende. Der Raum ist im Film in Tonbereiche zerlegbar, die hier in zunehmender Geschwindigkeit alternieren. Denken heißt in den frühen Filmen erst einmal Geschwindigkeiten zu finden und Prozesse zu verdichten. In den anderen Teilen von HOTEL wird mit extremer Verlangsamung und Umstellungen gearbeitet, um das Verschieben von Linien und Flächen in Straßenszenen zu zeigen. Der alltägliche Zeitsinn wird ausgeschaltet und Wahrnehmung in eine Art Zeitraum versetzt, nicht meßbare Zeit und nicht meßbarer Raum. Die starke Körnung des Films läßt die Prozession der Dinge als Materialität der Bilder hervortreten. Die Sichtbarkeit wird gegen den Blick mobilisiert. Zeitlich verschobene Prozesse legen sich übereinander und überkreuzen sich. Die technische Erfahrung, die Film ermöglichte, kannte man zuvor nur im Umgang mit Drogen. Es war Ernst Jünger, der von der physisch immobilisierenden Wirkung des Opiums berichtete, das aber neue Geschwindigkeiten in kurzen Zeitspannen erlaube wie in Flugzeugen. Vielleicht hat das Kino noch mehr Affinität zu solchen Grenzerfahrungen als zur Arbeit der Träumenden, weil nämlich der Traum Bilder zensiert, während Technik und Rausch das Denken in Bilder beschleunigen."
Lars Henrik Gass, BLIMP, Nr. 21, Januar 1992

Begleitet wurden die Aufführungen der kurzen Filme bis DEMON in den Siebziger Jahren von Live-Auftritten und Shows in Clubs und Kinos, vom Mudd-Club in N.Y.C. bis zur Berlinale oder irgendwelchen Kunstvereinen in der BRD. Eine Fotografie von Hellmuth Costard aus dieser Zeit zeigt Heinz Emigholz bei der Lesung seines Stücks DER KOLLEKTIVE SELBSTMORD DER BEACH-BOYS:

"Emigholz has a very strong performing presence, at once sinister and laid back. Reading by the glare of a video monitor on which there was no image, just noise, he alternately whispered and spoke a fragmented text into a microphone, ending with a rendition of the Marvelettes 'Destination Anywhere' hissed over the record."
Amy Taubin, THE SOHO WEEKLY NEWS, 1. Februar 1979

„As the lights lowered, the cold eye of a blank television sreen illuminated the stage. The infernal machine was sitting in the lap of a mysterious German named Heinz, who embraced it as he uttered the words to an even more mysterious poem.“
Harry Sumrall, THE WASHINGTON POST, 16. Dezember 1978


Wolfgang Müller

Toast

Meine Lieblingsdarsteller in HOTEL sind zwei Scheiben Toast. Sie verschwinden in dem auf dem Fensterbrett stehenden Toaster für kurze Zeit, um frischgebräunt kurz und dumpf hochzuspringen und von den beiden Frühstückenden mit Butter und Marmelade bestrichen verzehrt zu werden.
Es ist gar nicht sicher, dass es sich um zwei Scheiben handelt. Manchmal werden sie in den Schlitz des Gerätes gesteckt und kommen nicht mehr raus, aber nicht etwa, weil die Mechanik des Toasters defekt ist oder der Film zu Ende.
Und dann werden wieder ein oder zwei Scheiben reingesteckt, wie Kohle in einen Ofen. Aber es gibt keinen Rauch und keine Asche. Sie sind einfach weg.
Ich habe mir vorgestellt, dass die Zeit für das beiderseitige Bräunen unendlich lang, nie endend ist und sozusagen stellvertretend mit der Materie verschluckt wurde.
Regelmäßig und plötzlich verschwinden auch die beiden Menschen, die am Frühstückstisch sitzen. Das sind Filmschnitte und außerdem steht der oder die eine auch mal auf, um aus dem Bild zu gehen. Die Toastscheiben gehen auch aus dem Bild, wenn sie in den Schacht geschoben werden. obwohl sie ja eigentlich noch da sind oder sein müßten. Wenn diejenigen, die da frühstücken, aus dem Bild gehen, sind sie aber bestimmt nicht im Bräunungsstudio. So etwas gab es in den 70er Jahren, als der Film gedreht wurde, noch nicht. Und wer oder was sollte sie nach der Bräunung aufessen? Sie holen vielleicht eine Kanne mit Kaffee oder den vergessenen Salzstreuer. Aber es handelt sich auch um eine Art Verbrennung. Man ißt eine Toastscheibe ja nicht aus künstlerischen oder ästhetischen Gründen, sondern damit der Organismus sie verbrennt und durch diesen Prozess Energie gewinnt, die wieder verbraucht werden kann: etwa zum Salzstreuer- oder Kaffeeholen.