Die Wiese der Sachen: Seite 5 of 5

Stuhl, Hudson Street 100, N.Y.C., 1974Bettina Klix / Sebastian Weber

Eine Nachsaison in der Hölle

I

Es gibt Filme, die kommen nur in Gedankensprüngen voran. Das heißt: Sie schaffen sich ihre eigenen Hindernisse. Oder, als Vorurteil formuliert: Sie sind nur mit sich selbst beschäftigt. Daß dieser Befund kaum noch laut wird, ist leider kein gutes, sondern ein schlechtes Zeichen. Denn das verdächtigte Denken, das sich eben nicht darauf beschränkt, bereits Gedachtes illustrieren oder recyceln zu wollen, kommt in Filmen kaum noch vor. Was dann bleibt, sind allenfalls leidlich kritische Gedanken, die über den Bildern in Stellung gehen, am liebsten in der Sprache einer sich selbst durchschaubar gewordenen Mythenhörigkeit.
Denken im Film dagegen, das sieht etwa so aus, daß sich nichts folgerichtig aus dem andern ergeben muß und doch alles miteinander in Kontakt steht. Alles, Räume und Dinge, Körper und Sätze. "Jeder denkt alles, alles (denkt) jeden", ein Normalsatz aus dem gleichnamigen Film von Heinz Emigholz. NORMALSATZ, ein Spielfilm aus dem Jahr 1981, bildet zusammen mit seinen beiden Nachfolgern, DIE BASIS DES MAKE-UP (1985) und DIE WIESE DER SACHEN (1987), eine Trilogie. So reich an Komplikationen diese Filme sind, mußten sie wohl einsam bleiben. Mag sein, daß sie eine Art trotziger Selbsteinschließung betreiben, aber was heißt das schon? Jedenfalls sehen sie nicht so aus, als hätte diese Unterstellung sie jemals peinlich berühren können. Von daher sollte eine Erörterung dieser Filme die Schwierigkei-ten, mit denen sie sich ausgestattet haben, mit zu Wort kommen lassen; sie gehören einfach dazu und es wäre ganz vergeblich, sie wegdenken zu wollen. Könnte man sich genauer an die erste Phase des Kennenlernens erinnern, würde einem sicher wieder einfallen, wie das, was einen sofort angesprochen hat - etwa die architekturkritische Fernsehsendung „1000 Häuser“ in DIE WIESE DER SACHEN, umstellt blieb von Mißverständnissen, Verwechslungen, Aussetzern, Ablenkungen.
Die Schwierigkeiten ändern sich, freilich ohne zu verschwinden. Immerhin lernt man sie mit der Zeit besser kennen. Zunächst hat man allerdings genug damit zu tun, Situationen, die dort anzutreffenden Leute und deren Beziehungen, zu mustern. Erstmal ziemlich ahnungslos, fragt man sich, was vom gerade Geschehenen für den weiteren Verlauf des Films, entscheidend, aufschlußreich oder sonstwie wichtig werden könnte. Auf Antwort wartend, kann einem schnell entgehen, wie der Film unterdessen schon wieder woanders angekommen ist und etwas, erstmalig oder erneut, auftaucht, daß später noch einmal eine Rolle spielen könnte.
Die Filme sind so eingerichtet, daß laufend Situationen vorkommen, die das Sehen ins Stocken geraten lassen. Gebremst durch die Frage, was denn jetzt aufgelesen und bis auf Weiteres mitgenommen werden sollte. Kein Wunder also, daß einem bei all den, meist namenlosen, Leuten, die man im Lauf der Filme in wechselnden Konfigurationen antrifft, doch nie so recht klar wird, was hier eigentlich vorgeht. Nicht, dass es überhaupt keine Informationen gäbe. Verstörend wirkt eher, daß Angaben zu Person und Lebensumständen ihren Dienst als Erklärungen versagen. Stünden die für das Tun und Lassen der Figuren maßgeblichen Gründe, Zwecke, Motive auf Abruf bereit, sähe alles ganz anders aus.
Selbstverständlich gibt es Worte, mit denen man die Filme erkennungsdienstlich behandeln kann: Sie spielen in einem Künstlerbohèmemilieu. Ein Umstand, der in DIE WIESE DER SACHEN, vor dem Hintergrund von Gentrification in Manhattan, als sozioökonomische Tarnidentität ausgegeben wird: "Unser Vermieter hielt uns für Künstler. Für ihn hatten wir nur eines im Sinn, nämlich Farbe auf Leinwände zu pinseln. Geheiligter Schwachsinn des Ausdrucks."
Dokumentiert wird die Inkubationsphase der 80er Jahre. Der neuen Kälte verpflichtet lebt man in einer New Wave Version von Armut, aber ohne daß von den Stilisierungen des Nachtlebens viel zu sehen wäre. Die jungen Männer ha-ben kurze Haare und die Frauen wirken ernüchtert. Es sind Leute, die man dabei sieht, wie sie zu Hause allen möglichen Tätigkeiten nachgehen: Oft zu mehreren in einem Raum arbeiten sie, schreiben, reden, essen, hängen herum oder sehen fern. Die meisten Dinge in dieser Umgebung, die Tische, Stühle, Lampen, ebenso wie die Schreibmaschinen, Fernseher, Kühlschränke, sehen verjährt und damit entwertet aus - Gegenstände aus der Warenwelt, die hier auf ihre alten Tage ein Asyl gefunden haben. Das neueste Gerät in der New Yorker Wohnung von NORMALSATZ ist ein Anrufbeantworter.
Beobachtungen wie diese lassen sich ohne weiteres fortsetzen. Nur entgeht einem dabei, was die Filme tun, um den Worten, die sich beim Zuschauen an sie heften, gleich wieder zu entgleiten. Nehmen wir eine Szene aus DIE BASIS DES MAKE-UP. Eine Frau und ein Mann, die für uns zu diesem Zeitpunkt schon keine Unbekannten mehr sind, treffen sich zum Essen. Vorher wollen sie noch ein bißchen mit dem Expander trainieren. Schon fragt man sich, wie die beiden eigentlich zueinander stehen, und unversehens drängt sich die Vermutung auf, die beiden seien ein Paar. Oder, wenn schon kein Paar, dann doch so etwas wie die vorübergehend auflebende Erinnerung daran. Was sie sich in immer neuen Gedankensprüngen zu sagen haben, kommt mal dieser, mal jener Vermutung näher, aber so wie die beiden da ins Bild gesetzt worden sind, machen sie nicht gerade den Eindruck,
als seien sie dazu da, irgendeine der Vermutungen, die man über sie anstellen mag, zu bestätigen. Selbst auf dieser Kurzstrecke multipler Zweisamkeit werden die einzelnen Zutaten genauso schnell wieder abgetragen wie die Mahl-zeit aus flambierten Kartoffeln. Unter anderem gibt es fallengelassene Selbstmordgedanken, Scheidungsgeschichten, Bücherverbrennung, small talk, Sportsfreundschaft, Beziehungsdreieck mit Erniedrigungsspiel, Überspanntheiten, Sondierung eines neuen Liebhabers ...
Wahrscheinlich fällt zuerst an der zersplitterten Sprache der Figuren auf, in wieviele Richtungen das Innenleben solcher Situationen sich ausbreitet. Diese ähneln Zusammen-treffen oder Ansammlungen, zu denen sich neben den an sich schon äußerst heterogenen Sprachteilen aber noch eine ganze Menge anderer Elemente eingefunden haben. Tritt eine Geste oder eine Äußerung hervor, um die Situation an sich zu reißen, so bedarf es nur eines destabilisierenden Schnitts, und schon stellt sich heraus, daß daneben noch Platz genug für die eine oder andere Überraschung ist, um diesen Herrschaftsanspruch auf ungeteilte Aufmerksamkeit wieder zu entkräften. Zwangsläufig führt das zu Enttäuschungen auf den zweiten Blick und die Freude des Wiedererkennens sieht sich verdorben. Gut für Verstörun-gen ist sicher auch die doppelbödige Verständnishilfe, daß am Anfang eines jeden der Filme schriftliche Angaben zu Ort und Datum des Geschehens gemacht werden. Aus Brooklyn und Hamburg, den Schauplätzen von NORMALSATZ, macht der Film ein Kompositum namens Brookburg am 30. April 1975 (Ende des Vietnamkrieges). Im Verborgenen bleibt dagegen die Lage des Schauplatzes von DIE BASIS DES MAKE-UP: "Das Land Belgien" - eine betont vage gehaltene Auskunft für einen Film, der auf engstem Raum spielt. In DIE WIESE DER SACHEN sind es wieder die zwischen New York und Hamburg springenden Bilder, die dieser Film in einem Gedächtnisraum versammelt, der den Namen "Clonetown" trägt. Auch wenn es erst im Nachhinein klar wird, aber genau genommen weisen einen all diese Ein-gangsmarkierungen darauf hin, daß man hier jedesmal vor der Konstruktion eines aus realen Schauplätzen eigens zusammengesetzten Zeitraums steht.

II

Daß der Kamerablick sich hier seinen eigenen Raum baut, ist sozusagen Programm. In einer entsprechenden Äusserung von Emigholz heißt es: "Die besondere Architektur eines Blicks ersetzt aufwendige Bauten. Eine in der Kamera mitgefühlte oder kontrapunktierte Bewegung, eine ohne Blickwinkelstandards konstruierte Beziehung der Einzelteile auf dem Bildfeld verwandelt jede äußere Realität in ei-ne vom Blick erbaute." (KRIEG DER AUGEN, KREUZ DER SINNE)
Es handelt sich um einen leicht gespaltenen Blick, der staunend registriert, was er eben gerade, mit massiver Unterstützung seines Körpers, angerichtet hat. Schon durch die Rahmung der Bilder, die Kadrage, kommt es ständig zu krassen, unverhohlenen Eingriffen in das, was zu sehen ist. Es wird abgeschnitten und schräg gestellt, gekippt und umgelegt. Der Zugang zum Bildraum scheint wie durch eine Barriere versperrt, die, wie man sich vielleicht vorstellen kann, nur unter Verrenkungen überwunden werden kann. Ist das geschafft, läßt ein zweites Hindernis selten lange auf sich warten. Denn so wie die Einstellungen sich gegeneinander abschließen, gestalten sich die Übergänge beschwerlich. Nirgends eine Einführung oder Überleitung, die man unmöglich verpassen kann. Ohne daß viel passiert wäre, sieht immer mal wieder plötzlich alles ganz anders aus. Un-vermittelte Auftritte lassen die Figuren dastehen oder sitzen wie Möbel. Sie befinden sich im Raum, ohne daß ihr Weg dorthin gezeigt würde. Ihre Begegnungen und Berührungen sind oft überraschend, ebenso Ausrufe - weder Gestik noch Mimik haben sie vorher im Bild angekündigt. Wer spricht, ist deswegen noch lange nicht zu sehen; wer sich bewegt, noch lange nicht zu hören.
Für das, was traditionell unter Handeln verstanden wird, ist hier kein Platz. Die Figuren sind anderweitig beschäftigt, mit und in einer von familiären Bindungen freien Privatsphäre, einer Alltagswelt, deren Darstellung garnicht erst den Anschein zu erwecken versucht, hier könne jemand in der Verfolgung hoch gesteckter Ziele sein Leben exemplarisch steigern oder scheitern. Und auch die ganz alltäglichen Geschichten, die sich dort ja trotzdem abspielen mögen, sehen sich auf Andeutungen beschränkt; sie rangieren sozusagen unter ferner liefen. Dort, wo die persönlichen Geschichten sich zurückhalten, drängen die Dinge darauf, eine aktivere Rolle im Bildraum zu übernehmen. Durch ihre Linien, Farben, Volumen, Flächen, Kanten, Ecken setzen sie die Bilder eigenmächtig unter Spannung, was manchmal schon an Kippfiguren erinnern kann. Die Stellung der Ka-mera erlaubt es einer runden Tischplatte so auszusehen, als rolle sie gerade ins Bild hinein, aber auch so, als würde sie gleich wieder hinausrutschen wollen. Vom Bild wird das Ding in die Lage eines namenlos gewordenen Fremdkörpers versetzt, es ist dabei, den mit seiner Wahrnehmung vormals verknüpften Tätigkeitsanmutungen zu entgleiten und läßt zugreifende Blicke mit leeren Händen zurück.
Das alles spielt sich in Räumen ab, in die man sich kaum anders als mit dem Gefühl vertiefen kann, keinen festen Boden mehr unter den Füßen zu haben. Eine Bewegung wie in Behältern - eine dunkle Truhe oder Höhle (DIE BASIS DES MAKE-UP), wo sich der Blick nur unter langsamen Vorantasten bewegen kann, dann wieder ein Wasserbecken, ein Aquarium, mit direktem Abfluß in das städtische Häuser-meer (NORMALSATZ), wo der Blick ins Schwimmen kommt.
Für diese schwimmenden, schwebenden, tastenden Vertiefungen in den Raum sind die Bewegungen der dort anzutreffenden Figuren nicht maßgeblich. Es gibt Naheinstellungen, da wirken ihre Körper wie aus dem Gefüge des Rau-mes herausgesprungene und ihm dennoch verhaftet gebliebene Teile. Jemand an einem Tisch sitzend, der vor einem Kühlschrank steht, kann so wie Teil einer Montage aussehen, eines Zusammentreffens mehrerer Bilder in einem. Genau das Richtige also, um den Eindruck zu vereiteln, die Figuren stünden unserer Anteilnahme voll und ganz zur Verfügung. Gerade weil sie es nicht tun, können sich die Tätig-keiten, Verrichtungen, Berührungen, mit denen sie beschäftigt sind, von ihrer körperlichen Seite zeigen. Also physisch. Körper treffen aufeinander, wobei sich die Bilder Immer wieder wie Versuchsanordnungen für sehr eigenartige Körperkontakte darstellen. Der Küchentisch in DIE BASIS DES MAKE-UP beispielsweise beschreibt so einen Ort: Kartoffeln, ein Ei, die Zeichnung davon, die Fallbewegung, der schwarze Schuh neben dem Stuhlbein, das Zertreten des Eis ... - hier, oder auch in der Szene aus NORMALSATZ, wo Nägel aus Eisen in eine Badewanne mit Wasser gekippt werden, in der schon jemand sitzt, macht sich, augenblicksweise, eine Aggressivität bemerkbar, die an Spielarten des Happenings erinnert. Es ist eine Aggressivität, die sich im Verhalten von und zu bestimmten Materialien äußert und die besonders dort ins Auge sticht, wo einem vorgeführt wird, wie Tast-und Geruchswerte von Fleisch, Schnaps, Milch, Schlamm den Gebrauch, den die Körper der Figuren voneinander machen, begleiten bzw. diesen erst richtig ausmalen. Anders, skizzenhafter, wenn man so will, fällt die Wirkung aus, wenn die körperlichen Berührungen nur kurz dauern und dabei so aussehen, als würden sie sich wie präzise prüfende Griffe anfühlen. Hier geht es dann nicht mehr um Überbrückungen zwischen fremden und dem eigenen Fleisch, sondern darum, die Knochen auf die Probe zu stellen.
Damit all diese Bewegungen im Reich von Körpern, Fleisch und Knochen sich entfalten können, muß die Zeit, die ihnen eingeräumt wird, etwas Gedehntes oder Schleppendes bekommen. Am Ende von DIE WIESE DER SACHEN, wenn der Film in einer Scheune zwischen Stroh und gestapeltem Männerfleisch seine Endstation erreicht hat, läßt sich diese Zeit hören - in einem Song, der klingt als werde er zu langsam abgespielt, im Refrain unendlich müde die "Love is strange", nicht verwundert, nur erschöpft.

III

"Ich hätte auch gerne einen Körper gehabt." Ein Satz aus DIE WIESE DER SACHEN, den man schwer vergißt, vielleicht weil er einen jener Momente im Denken betont, wo es kurz davor steht, auf Abwege zu geraten. Wer sich diesen Satz zueigen machen wollte, müßte immerhin schon so weit sein, Bedauern darüber äußern zu können, nicht auch schon bei den Toten zu sein: Statt nach wie vor einen Körper zu haben, endlich fertig mit ihm zu sein, ihn gehabt zu haben. Im Film wird der denkwürdige Satz einer Figur in den Mund gelegt, die ihn vielleicht gar nicht persönlich nimmt, sondern gleich weiter reicht - als höhnische Totengabe für jemanden, kurz bevor sie (verkleidet als Mann) bei lebendigem Leib in einem Grab verscharrt wird.
Körper, das ist hier ein Ort, der gleich zweifach heimgesucht wird. Im Kreuzfeuer der Bilder und Sätze: Der Bilder, die es auf ihn abgesehen haben und die ihn ans Licht bringen. Der Sätze, an denen er schwer zu schlucken hat und in denen er sich Luft verschafft. "Heute, beim Anblick deines Liebhabers, wäre ich vor nicht stattgefundener Empfindung und Langeweile fast zusammengebrochen" aus DIE BASIS DES MAKE-UP ist solch ein Satz. Gesprochen von einer Stim-me, während der dazugehörige Körper dabei zu sehen ist, wie er sich in den Krämpfen einer Erinnerungshölle zwischen Perserteppichen windet.
Kein Film der Trilogie, durch den nicht Stimmen geisterten, die sich von den Angelegenheiten des Körpers lossagen. Sie sind nahe dran, keinen Körper mehr zu haben. Wie lädiert auch immer, hat in diesen Stimmen die Instanz eines Ich-Erzählers überlebt. In DIE BASIS DES MAKE-UP ist es die Stimme von John Erdman, jemand, der hier als Hauptdar-steller noch anderes zu tun hat als die Rolle des Erzählers zu spielen und das Ende des Films nur ziemlich angeschlagen erreicht. Dagegen stellt sich die Erzählerstimme in DIE WIESE DER SACHEN ohne Umschweife als die eines Toten vor. Zurückgezogen von den Körpern hat er im Telefon, das einsam daliegt und wie ein Embryo ausschaut, ein Medium gefunden, um seinen Text durchzugeben. Als Eröffnung gleich ein Schlüsselsatz: "Ich hätte diese Geschichte gern verhindert". Das klingt auf absurde Weise kokett. Aber, Selbstreferentialität verpflichtet, und zwar gleich doppelt: So widerwillig die Erzählung der Geschichte wirkt, kann man sagen, daß sie nicht nur erzeugt, sondern eben gleichzeitig auch dementiert wird.
Daraus, daß nur die Toten, wie es einmal heißt, "eine richtige Geschichte mit einem Anfang und einem Ende erzählen" können, ergibt sich ein Auftrag, den in diesem Fall jemand nur mit einigem Widerwillen nachkommt. Von sich reden macht dieser Widerwille in Schlußstrichgesten, die noch einmal eigens bekräftigen, daß hier für jemanden schon alles gelaufen ist: "Die Menschen als zu Lebzeiten abgestossene Leichenteile einer sich auf ewig weiter teilenden Gesellschaft." Das ist, wie vieles aus dieser Zeit, nahe am nihilistischen Kitsch, wollte man es wörtlich nehmen. Im Licht dessen, was man von den Beziehungen der Figuren überhaupt mitbekommt, stellen sich solche Äußerungen aber wieder anders dar, weniger exponiert.
Denn das, worin man sich eigentlich die ganze Zeit befindet, das ist Nachsaison. Mit all den Überbleibseln dessen, was einmal zwischen ihnen gewesen sein mag: Erinnertes Scheitern, Gleichgültigkeit, Larmoyanz, Wut, Ekel, Erschöpfung, und eine Sehnsucht, die sich jeder Personalisierung entzieht, die überall und nirgends ist. Es sind jedenfalls starke Gefühle für ein nicht näher bezeichnetes, wahrscheinlich aber männliches Du, von denen die bereits erwähnten Erzählerstimmen bewegt werden. Ein Du, das sie in seiner Namenlosigkeit direkt ansprechen, ohne daß es sich jedoch unter den sichtbar werdenden Figuren, die als Kandidaten für eine Verkörperung überhaupt in Frage kommen, als solches zu erkennen gäbe. Erst das Du und schließlich, in DIE WIESE DER SACHEN, auch das Ich spielen vor allem als Sprechwesen eine Rolle. "Ich kann mich nur noch vage an mich erinnern", hört man die Telefonstimme einmal sagen, während gleichzeitig zu sehen ist, wie jemand mit dem Zerlegen von Möbeln beschäftigt ist. Was ihre Verkörperung betrifft, so erspart ihnen das eine eindeutige Festlegung. Und auch der Sex bleibt vielverspreched und stumm; tritt er in Erscheinung, wie in einer besonders schönen Szene von DIE WIESE DER SACHEN, dann verfangen in einer Art Suchbild: unter der Diaprojektion einer Zeichnung tauchen eine Brustwarze, ein Auge, eine Hand auf.
Letztlich ist diese Sehnsucht so beschaffen, daß sie sich auf keinen bestimmten Körper konzentrieren kann. Wenn sie ein Objekt hat, dann sind es die Filme selber. Diese spielen sich ab in Räumen, die so aufgenommen worden sind, als hätten die Gefühle und Sehnsüchte der Bewohner dort einen Abdruck hinterlassen, den sie in seiner ganzen Vergänglichkeit festhalten können.
Jede Kunst hat ihr eigenes Verhältnis zum Tod. Kino, so der berühmte Satz von Jean Cocteau, heißt dem Tod bei der Arbeit zuschauen. Emigholz wandelt diese Idee dahingehend ab, daß der Tod selber zum Zuschauer wird. Die Produktivität des Todes fällt so aus, daß alles, von der Kaffeetasse bis zum Gesicht, in dauerndem Kontakt mit Verbrauch oder Verschleiß steht. Denn das Besondere an der Sichtbarkeit, zu der Körper und Dinge hier gelangen, ist ja gerade, daß sie die ihrer Vergänglichkeit ist. Was sichtbar wird, wird es immer auch als Versteck oder Verkleidung eines Todes, der da lebenslänglich, von Anfang an, in Wartestellung verharrt.