Zeichnung (529) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Einige Fakten und Konstellationen von Dingen aus der Welt vor ihrer Vernetzung: ein an einem Kran hängendes Wrackteil der Boeing 747 Maid of the Seas bei Lockerbie vor einem aufgedunsenen Schweineleib, ein Knoten im Schaltknüppel eines Fahrzeugs vor einer gehäuteten Rinderhälfte mit der streichelnden Hand eines Schlachters, eine Industrieruine mit zwei Schornsteinen und das von deutschen Truppen auf ihrem Vormarsch auf Moskau zerstörte Grabmal für Kasimir Malevitch. Aus der Rubrik Plaudereien über den Kapitalismus - Wertkonservative entdecken den tendenziellen Fall der Profitrate: Bemängelt wird, dass der Kapitalismus neuerdings seine Macht mit Hilfe von Maschinen ausübe, die automatisch kaufen und verkaufen. Vergessen wird dabei, dass wir längst Teil der kritisierten Maschine sind, und dass auch dieser Fakt mehr über Sprache als über Realität aussagt. 'Die Verhältnisse so zu beschreiben, wie sie wirklich sind, bedeutet Scheiße zu sein, und wir wissen, was mit Scheiße passiert: Sie wird weggespült.' (Gore Vidal)." (Aus: arsenal, september 13).

(1996)

Zeichnung (530) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Die Ballade vom weitergereichten Leben, hier eine Ansammlung verpasster Möglichkeiten aus der Endlosschnulze 'Geh' zu Chancen!' Ein Porno-Bauhaus am Santa Monica Boulevard mit einem stählernen Wasserspeier und das ovale Larry-Flint-Hochhaus am Wilshire Boulevard in Los Angeles, 1998. 'Ell-Äeh' klingt wie 'Elch' - diese Abkürzung benutzt aber kein geborener Los Angelito für seine Stadt. Ideal gebaute Torsi von Eva und Adam bei der Apfelübergabe sind mit Klebeband in den oberen Bildecken befestigt worden. Wie sich die Schönheit unter den Menschen vererbt hat, ist mir immer schleierhaft geblieben. Von Natur aus müssten sie immer hässlicher werden, aber alles nur Ansichtssache. Zwei hohe Palmen in Silverlake, positiv und negativ, lebendig weiß und abgestorben schwarz. Links unten ein Selbstportrait in der Pose eines Hamamelis inhalierenden Mitglieds der Bhagwan-Sekte mit orangenem Frotté-Handtuch im Zippelhaus in Hamburg, 1976. Dieses Bild enthält keinen einzigen Fehler, seine Kombinatorik stimmt, aber alles darin ist auf seine Weise falsch." (Aus: Zeichnung oder Film, 2013).

(1996) 

Zeichnung (531) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Syracuse, 11. Juni 1999. Abschluß der Verhandlungen mit der Syracuse University über die Duplizierung des dortigen Oral History of TV–Archivs. Zu befürchten ist, daß das hiesige Fernsehen in den nächsten Jahren in allen Programmteilen so arrogant selbstvergessen und zugleich provinz-narzißtisch selbstreferentiell agieren wird, daß unser Projekt scheitern könnte. Die Autorentheorie auf deutsche Fernsehproduzenten anzuwenden, ist tatsächlich kaum vorstellbar. Stattdessen gezapped: Ein pilgernder Kapuzenmann mit einem Holzkreuz auf der Schulter und einem Loch im ornamentierten, maßgeschneiderten Schuh, die Clintons auf einer Wahlveranstaltung am Ende eines roten Teppichs, eine vom Himmel fahrende Rolle Auslegeware, das Röntgenbild eines Lastwagens mit darin versteckten Kosovaren auf dem Zollamt von Calais. Ewige Kommissars-Duos an der Spitze unserer durchsubventionierten Schauspieler-Despotien: der auf den Punkt gebrachte Staat mit seinem heruntergebrochenen Volk." (Aus: arsenal, oktober 2009).

(1999)

Zeichnung (532) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Orvieto, 13. September 1990. Himmel und Hölle, Wiederauferstehung. Auf der Suche nach einem von Pier Luigi Nervi erbauten Flugzeughangar aus den 30er Jahren. Wahrscheinlich existiert das Gebäude nicht mehr. Hier die Tragkonstruktion des Daches mit der Toraufhängung. Rechts schlägt ein Skispringer in korrekter Körperhaltung kopfüber in den Boden. Links assistiert ein Geburtshelferengel der schwarz eingefärbten Seele des Grafen Orgaz aus El Grecos Gemälde Die Beerdigung des Grafen Orgaz dabei, in den Himmel zu schlüpfen. Auf Gegenkurs dazu die brennenden Reste eines einmotorigen Sportflugzeuges. Das Wort Ordet ist in seiner Typographie aus der Titelsequenz des Films Ordet (Das Wort) von Carl Theodor Dreyer übernommen. Im Film erscheint es negativ in eine jütländische Landschaft mit Strohdachhaus einkopiert. Die Schrift bildet dort ein Gegengewicht zu den hellen Wolken am düsteren Himmel. Auch im Filmtitel steht nach dem Wort ein Punkt. Das Scheitern und dann eine Erleuchtung, wie eine Behauptung, als Ereignis." (Aus: flypaper #5, 2010).

(1999) 

Zeichnung (533) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Hotel Durant, Oakland 1998. Die Menschen auf den Straßen kommen mir vor wie die Modelle, die sich El Greco in der Irrenanstalt von Toledo für seine Portraits der zwölf Apostel ausgesucht hat. Alle näher zu Gott als die normalen Menschen, so sein Argument. Und alle Sitzriesen. Seltsam, wie die Mode pro Saison auch einen bestimmten Körperbau favorisiert. Hier der in der Mitte abgeknickte Körper von Johannes, dem Täufer, kopiert aus dem Gemälde Die Beerdigung des Grafen Orgaz von El Greco. An der von seinem Lendenschurz verdeckten Sollbruchstelle eine mittelalterliche, von angetriebenen Pferden ausgeführte Vierteilung eines Delinquenten. Die Tiere könnten auf die Namen Europa, Amerika, Zeichnung und Film hören. Bei Moe's an der Telegraph Avenue ein Buch zu den Bauten Pier Luigi Nervis erstanden. Die schwarzen Bildteile markieren tragende Elemente und Details der Konstruktion des Pirelli-Hochhauses in Mailand von 1958. Abends dasselbe Gebäude in der Eröffnungssequenz des Films La Notte von Antonioni wiedergesehen." (Aus: flypaper #5, 2010).

(1999) 

Zeichnung (534) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Eine Frau mit bandagierter Nase erträumt sich nach einer Schönheitsoperation den nackten Oberkörper eines Mannes im Schilf eines Seeufers. Über seinen Rücken wandern Licht- und Schattenflecken, ein exemplarischer Frieden ohne Insekten und Invektiven. Doch von allen vier Seiten ragen Lotosblätter an Stengeln ins Bild, und der Mann hat Angst, sich beim Schwimmen in deren Wurzelgeflecht zu verheddern. Direkt unter der Wasseroberfläche wittert er die Spitzen eines undurchdringlichen Waldes. Dann jagt ihn die Vorstellung von Blutegeln und Schnappschildkröten, die sich in seinen Waden festbeißen, einen Schrecken ein. Er springt nackt aus dem Wasser und schreit Fuck nature! Ein Förster in Uniform beobachtet ihn dabei und schüttelt mit dem Kopf. Die Frau erwacht und ist froh, daß es noch zu keinem Kontakt gekommen ist. Sie will sich erst wieder in den sozialen Netzwerken zeigen, wenn ihre korrigierte Nase verheilt ist. Dann stünden ihr alle Möglichkeiten offen und jener Match-in-heaven, den ihr der Traum prophezeit hat." (Aus: arsenal, juni 17)

(2005) 

Zeichnung (535) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Die Dunkelphase einer Sonnenfinsternis am Hambacher See am 11. August 1999. Zwei nackte Männer mit Boxhandschuhen verschwinden zwischen den hohen Gräsern am Seerand. Ein Rhönradfahrer aus dem Fotoband In Licht und Sonne von Kurt Reichert aus den 30er Jahren überquert die Liegewiese, ebenso wie der Schatten der tieffliegenden Air Force One mit Präsident Clinton an Bord auf dem Weg von Schönefeld nach Moskau. Oder war es nur eine zweite Air Force One, die zur Ablenkung die gleiche Strecke flog, ohne den Präsidenten an Bord? Die Männer zwischen den Gräsern sind aufgeschreckt und fühlen sich belästigt von dieser möglichen Doppelung. Wie Hasen auf Hinterbeinen schnuppern sie in die Luft, um eine Witterung aufzunehmen. Alles riecht nach Abgasen, der Raum verdichtet sich, eine Zeitanomalie setzt ein und am Himmel erscheint als Gespenst ein futuristisches, dreieiiges Geschlechtsorgan mit Düsenantrieb. Alle tun so, als hätten sie nichts gesehen, wenden sich sprachlos ab und gehen vermehrt ihren drängenden Geschäften nach." (Aus: arsenal, september 20).

(1999) 

Zeichnung (536) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Fünf pornografische Skulpturen aus Aquitanien vor der Skizze eines Säulensockels im Zisterzienserkloster Maulbronn. Aus dem Petite Grammaire de l'obscène von Christian Bougoux, der sie als erster abgezeichnet und enzyklopädisch aufgelistet hat. Der ursprüngliche Ort ihrer Anbringungen unter den Dachfirsten und an den Außenwänden mittelalterlicher Kirchen erscheint logisch: Die Todsünde musste vor der Tür bleiben, aber doch anschaulich unterrichtet werden können. Pornografie war schon immer Lebenshilfe und gesellschaftliche Notwendigkeit. Wer sonst nimmt sich der unbestreitbar vorhandenen, überschüssigen Energien an. Was nicht sein darf, muß überlebensgroß plakatiert werden, um die Nichtigkeit des Konsumenten und ihrer Regungen zu demonstrieren. Hier ragen die Zurschaustellungen an Stäben aus den steinernen Rosetten eines Torbogens hervor, an dessen Fuß ein Motorradfahrer verunglückt ist. Daneben feiert Die Auferstehung des Fleisches von Luca Signorelli im Dom zu Orvieto verzückt den nackten Rücken eines der Wiederauferstehenden." (Aus: Black Blocks, Cinema Scope #46, 2011).

(1996) 

Zeichnung (537) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Ein weiterer Verkehrsunfall: Zwei Auferstehende aus Luca Signorellis Die Auferstehung des Fleisches im Dom S. Maria zu Orvieto neben einem brennenden Autowrack. Den einen kleidet noch die Maske eines Totenkopfs, der andere betrachtet schon den Boden, zu dem er bereits geworden war. Dabei reckt er sein Hinterteil keck in die Höhe. Signorelli wusste, wozu Fleisch gut ist, auch als Vorlage für eine individuelle Abfuhr. An den Stäben, die aus den architektonischen Blümchenrosetten herausragen, drei pornografische Skulpturen aus Stein, vorgefunden an romanischen Kathedralen aus dem 11. und 12. Jahrhundert in Frankreich. Primäre Geschlechtsteile im Hardcore Format sind die Stars dieser Darstellungen. Erlöst man die Kirche von ihren guten Absichten, hatte sie schon immer etwas zu bieten. Der gemeine Mensch ist dagegen das augenscheinliche Nichts, dem sein Warencharakter im Hals steckenbleibt. Im Hintergrund die Skizze eines Säulensockels im Kloster Maulbronn - nichts als Fratzen und harmlose Stilisierungen, Softcore eben und wenig erbaulich." (Aus: Black Blocks, Cinema Scope #46, 2011).

(1996) 

Zeichnung (538) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Zwei Darmabschnitte hängen als Damoklesschwerte an Stöcken über einer häuslichen Szenerie. Ich sitze mit Sheila McLaughlin auf dem Boden des grüngrauen Flurs im 4. Stock von 100 Hudson Street, NYC, zur Jahreswende 1974/75. Gezeichnet nach einer Fotokopie von David Larcher, in die sein damaliges Signet angeschnitten eingeprägt ist. Rechts und links eingefaßt wird die Momentaufnahme von zwei Modellen, die Nervenfasern in Phantomsicht darstellen sollen. Beim erzwungenen Auszug aus dem verwahrlosten Bürogebäude setzten wir die Etage mittels des an der Wand hängenden Feuerwehrschlauchs unter Wasser. Das zwölfstöckige Haus war schon zuvor heruntergekommen und wartete auf Spekulanten, die es zu einer Luxusherberge umgestalteten. Jahre später stand ich unten auf der Straße und blickte zu meiner ehemaligen Fensterfront empor. Eines der Fenster öffnete sich und jemand schrie voller Hohn It’s nice up here zu mir herunter. Keine Ahnung, wieviel Schaden das Gebäude dann später beim Einsturz des World Trade Centers genommen hat." (Aus: arsenal, dezember 15)

(1997) 

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