Zeichnung (50) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Als 14jähriger wollte ich, zum Entsetzen meiner Mutter, nach Australien auswandern. Hier die Silhouette dieses Erdteils unter einem Küchentisch mit sieben Schlössern in Achim. Die Buchstabenkombinationen ZU, U und UZ als Neonlampen der Bedeutungen "Closed", "Underground" und "Unsere Zeit", die Zeitung der DKP. Was bleibt an der Form Fabel verlockend, welcher Erzähler glaubhaft im Körper verankert? Die silbernen Rippen des World Trade Centers spiegelten die Sonne so scharf durch mein Fenster, daß die über den Stuhl gehängte Jacke einen Schatten auf die Linoleumplatten warf. Der Einsatz der Lebenszeit ohne instant gratification, also keine strategische Kommunikation mit einer nur zu diesem Zwecke herbeiprojizierten Gesellschaft, ein unhysterischer Umgang mit Zeitmangel beim Abschreiben der im Körper versteckten Geschichte. Die facettenhafte Potenzierung von Blickrichtungen, die prägenden Ortskoordinaten einer Landschaft, deren vorübergehende Sprachwerkzeuge wir sind. Und endlich der von den reflektierten Sonnenstrahlen umgeworfene Stuhl." (Aus: The Travel Almanac Nr. 4, 2012).

(1976)

Zeichnung (51) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Hamburg, 1976. Sich vollaufen lassen, abgefüllt werden, drei Stadien der Trunksucht: Nippen, Schlürfen, Binge drinking auf Nimmerwiedersehen. Exzeßhafte Nivellierung körpereigener und fremder Flüssigkeiten. Der innere Horizont, das 90-Grad-Kräfteverhältnis zwischen Horizont und Schwerkraft, nach innen gekehrt und nach außen gewendet. Im Lokal Zu den Vereinigten Aggregatzuständen, ein vergeistigtes Dasein als Kurz-Comic. To be transported: Als das Wesen einer Reise erschien mir die Ortsgebundenheit von Gedanken und in deren Folge die Möglichkeit ihrer Entwurzelung. Die Gedanken tauchten in der gleicher Geschwindigkeit auf, in der sie wieder ausgespuckt und fortgespült wurden, wie wandernde Wolken. Ich kann nicht packen, aber auch das war mir zunehmend egal. Anstatt zu packen, kaufte ich immer neue Koffer - alle in unterschiedlichen Größen. Hoffnungslos ernüchtert verstaute ich die Koffer dann ineinander wie die Puppen einer Matrjoschka und reiste ab. An jeder Grenze hinterließ ich einen der Koffer unter großen Verlustgefühlen beim Zoll." (Aus: The Travel Almanac Nr. 4, 2012).

(1976) 

Zeichnung (52) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Blicktheater mit zwei nackten, deutschen Spionen auf einem Schiff im Mittelmeer zu Zeiten des II. Weltkrieges. Wir sehen einen räuberischen, einen technisch vermittelten, einen neugierig kontemplativen und einen sich selbst negierenden Blick. Die Männer werden von einer Frau beobachtet, die eine Sonnenbrille auf ihrem kahlen Kopf zurückgeschoben hat. Viel früher hatte sie selbst nackt an Deck gestanden, und ihre langen Haare hatten ihr dabei den Blick auf die Wellenberge verwehrt. Jetzt ist ihr Blick von einer sanften Traurigkeit gezeichnet, die von ihrem Ausschluß aus der Welt der Männer und von deren nichtsnutzigen Projektionen herrühren mag. Der Spion mit der Schiebermütze filmt eine ferne, außerhalb des Bildrahmens liegende Szenerie. Der Spion mit den nassen Haaren ruht in sich selbst und blinzelt in die Sonne. Ein tierisches Interesse hat ihn erfaßt, das die Darstellungen der beiden Frauenfiguren in einer Vorher-Nachher-Konstellation zu begreifen versucht. Dann grübelt er über sein Scheitern nach." (Aus: arsenal, juli august 15)

(1976)

Zeichnung (53) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Zwei Radfahrer, deren Silhouetten Schlagschatten auf eine ebene Straße werfen, von Silke Grossmann Ende der 70er Jahre in Amsterdam fotografiert. Ihr Profil ist rechts im Anschnitt zu sehen. Sie blickt in einen von Geschichte definierten Raum von unendlicher Tiefe und Höhe, in dem 1944 während der Invasion in der Normandie britische Fallschirmspringer vom Himmel herabschwebten. Viele der Soldaten wurden im Flug abgeschossen. Auf dem Gelände des jetzigen Flughafens Schipohl gab es zu jener Zeit Kleingärten, in deren Hütten der Schweizer Kunstfreund und Hotelier Hans Obrecht und der spätere Direktor des Stedelijk Museums, Willem Sandberg, jüdische Kinder versteckt hielten. Dreißig Jahre später malte Obrecht seiner kranken, ans Bett gefesselten Frau in ihrem Schlafzimmer im Hotel Amstelrust an der Amstel 252 eine Tür an die Zimmerdecke, weil sie beim Erwachen an der Vorstellung litt, in einem Raum ohne Ausgang eingesperrt zu sein. Die Kraft des Imaginären sollte den Realismus der Angst überwinden und tat es auch." Aus: arsenal, mai 17

(1977) 

Zeichnung (54) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Hamburg an der Elbe, Ende der 70er Jahre. Die Bänke aus Beton vor dem Spiegel-Hochhaus an der Ost-West-Straße waren von einem Lastwagen über den Haufen gefahren worden. Man hat sie daraufhin mit Stahlplatten aneinander geschraubt. Am Morgen meiner Abreise fuhr ich aus einem  Alptraum hoch, der von einem Glas Bier handelte: Zuerst erschien das Glas zur Hälfte voll mit Bier ohne Schaum und bis zur Füllhöhe außen schwarz angemalt. Die Oberfläche des Bieres wurde mit einem Schokoladenkeks abgedeckt, auf den eine dicke Schicht Butter aufgetragen wurde. Der Rest des Glases wurde dann mit Bierschaum aufgefüllt, der über den Rand hinunterlief, und oben mit einem weiteren, schwarzen Keks abgedeckt. Dann wurde auch der obere Teil des Glases außen schwarz angemalt. Alles wie in einem Trickfilm, menschliche Protagonisten hatte der Film keine. Es ist ratsam, vor Träumen dieser Art die Flucht zu ergreifen. Ihre Geschichten steigen aus den Innereien auf und kehren die Zeit um. Ein Rachefeldzug der Exkremente, deren Ausscheiden unmittelbar bevorsteht." (Aus: Zeichnung oder Film, 2013).

(1978) 

Zeichnung (55) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Eine schräg in den Fußboden gerammte Kommode aus der Gründerzeit war 1988 Teil meiner Ausstellung Der Untergang der Bismarck in der Berliner Zwinger Galerie, die die Bismarcksche Sozialgesetzgebung und das Schicksal der Schlachtschiff-Besatzung zum Thema hatte. Der abgesägte Teil des Möbelstücks hing darüber an der Wand, die rustikalen Beschläge der Rednertribüne des Bonner Bundestages an der Decke. Petra Nettelbeck im Rollstuhl, gezeichnet mit einer Maus in der damaligen, noch pixiligen Version von MacPaint, dreht sich auf dem obersten Absatz der verhaßten Treppe zum Büroraum der Galerie um. Schwarz gezeichnet die Grundrisse zweier Höhlen in der Südpol-Passage des Arthur-Gordon-Pym–Romans von Edgar Poe. Wenn der Staat dein Leben einfordert und dich absaufen läßt, hat das Demokratie-Spiel ein Ende. Opfergänge und Auflösungen von Rätseln, die kurz bevorstehen, aber niemanden mehr interessieren. Zu früh, zu spät, und nicht auf dem Punkt: die Revolutionen, die ohne uns stattfinden." (Aus: arsenal, november 18). 

(1988) 

Zeichnung (56) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Einfache, gedoppelte und gestrichelte Linien, Pfeile und Kreuze, die die letzte Fahrt, den letzten Kampf und den Untergang des Schlachtschiffs Bismarck am 27. Mai 1941 kennzeichnen. 2104 zwischen seinen Stahlplatten eingeschlossene Männer zog das Wrack mit auf den Grund der Nordsee. Zwei an der Wand der Zwinger Galerie in Berlin aufgehängte Teile meiner Ausstellung Der Untergang der Bismarck von 1988, die den Fortbestand der Grundzüge der Bismarckschen Sozialgesetzgebung anzweifelte: das Viertel eines zersägten Schreibtisches aus der Zeit des Gelsenkirchener Barocks und eine Satellitenkarte vom Golf von Nantucket, der Heimat von Arthur Gordon Pym. In einer Versuchsanordnung müssen vier Kaninchen in Kisten eingesperrt bis zu ihrem Tod Zigaretten rauchen. Alles unter der Annahme, dass Tiere kein Bewusstsein haben. Der Dichter Christoph Derschau im Zustand der Erschöpfung am Ziel eines Marathonlaufes. Die '9' war die Zahl auf seinem Hemd. Er starb 1995 an den Folgen einer Lungeninfektion, die sich wie rasend unter den Läufern verbreitet hatte." (Aus: Black Blocks, Cinema Scope #46, 2011).

(1988) 

Zeichnung (57) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Zum Einüben: die Silhouetten von zweiunddreißig Kampfflugzeugen auf einer Kenntafel für Jet-Piloten. Das Erkennen des Gegners und die daraus abgeleiteten Reaktionen müssen blitzartig und wie in Trance stattfinden, im Sinne tradierter Raubtiereigenschaften. Drei an Schläuchen angeschlossene, noch lebende Kaninchen warten derweil in schuhkartonartigen Kisten, deren Deckel man wie Halskrausen hinter ihren Köpfen verschlossen hat, auf die medizinischen Versuche, die man mit ihnen anstellen wird. Eine verordnete Passivität im Dienste der menschlichen Monokultur und ihrer Alleinstellungsmerkmale. Die traurigen Augen von Bonn: Ein Mann mit zentimeterlangen Hängewarzen an den Augenlidern und aufgerissenen Pupillen schaute 1987 vom Bahnsteig des dortigen Hauptbahnhofs in mein Zugabteil und direkt in meine noch gesunden Augen. Ich kam mir überrumpelt vor wie das Versuchskaninchen einer erkrankten Menschheit und beobachte seitdem argwöhnisch meine Augenlider. Wer will schon wissen, dass er ein gewalttätiges Tier ist, oder es gesagt bekommen." (Aus: Black Blocks, Cinema Scope #46, 2011).

(1988) 

Zeichnung (58) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"FRI - Freitag, der 24. Januar 1975, in Brooklyn, im Narkoseschlaf nach einer Augenoperation. Die unbeschriebenen Blätter eines Generationenvertrages als fragile Architektur skizziert auf dem Briefpapier einer Whereabout (Incorporated), die vor mir in den Räumen hauste. Jemand will etwas MIT MIT an einen anderen weiterreichen. Statt eines Turmes gleich zwei Türme, ein umgedrehter und dann übererfüllter Morgenthau-Plan. Zwischen den Papierseiten das gebrochene Auge eines Kaninchens als Mittler und als graue Wolke. Monopolkapitalismus nach dem tendenziellen Fall der Profitrate, keine Ungleichzeitigkeiten mehr und weltweit keine Verstecke, aus denen heraus man das Treiben beobachten kann. Aber soweit sind wir noch nicht, noch gibt es Feinschmecker. Der Beschuß eines Einfamilienhauses durch einen Kampfjet, dem die Rückkehr auf seinen Träger unmöglich gemacht worden ist. Ein beschädigtes Flughafengebäude, ein stählerner Sendemast irgendwo in einem staubigen Teil Afrikas. Das Gegenteil eines klaren Gedanken, aber Landwirtschaft ist keine Option." (Aus: Black Blocks, Cinema Scope #46, 2011). 

(1988) 

Zeichnung (59) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"SAT - Ein Samstag in Brooklyn, 1975. Ein Bohrer, der zu einer Augenoperation an der Nasenwurzel eines Schläfers ansetzt, Blood On The Tracks von Bob Dylan als Begleitmusik. Das neue Heizkraftwerk und der auf seiner Frontseite aufgeschlitzte Bunker mit dem Schrägdach aus dem II. Weltkrieg - Gebäude, die man aus dem Zug von Achim nach Bremen sehen konnte. Zwei Schüsse eines Soldaten, ein ungezielter (egal) und ein gezielter (bestimmt) in den Leib eines Mannes mit erhobenen Armen am Rande eines Abgrundes. Daneben drei durch Stahlhelme auf Karabinerläufen gekennzeichnete Soldatengräber. Ein Inc.-Zeichen in der Mitte des Gemäldes eines Steinschlags. Erst Avalanche von Liza Béar in Manhattan und dann Avalon von Bryan Ferry in Katharinas Toom Peerstall auf St. Pauli. Ferrys Version von Dylans A Hard Rain's A-Gonna Fall hatte 1973 bei mir einen Lachkrampf ausgelöst und kennzeichnet das definitive Ende einer Ära. Erst viel später die Einsicht, dass es sich um unfreiwilligen Humor seinerseits gehandelt haben muß. Dylan blieb unzugänglich." (Aus: Black Blocks, Cinema Scope #46, 2011).  

(1988) 

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