Zeichnung (229) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"X - Möglichkeit. Cruising in einer aus dem Nabel eines Leichnams aufsteigenden Seele. Die Story wird in einem Reaktor ausgebrütet: M (Material) + K (Kombination) + A (Ausschnitt) + E (Einzelbild) + R (Rahmen) + D (Detail) = S (Story). Aus dem Boden aufsteigende Dämpfe bilden einen Vorhang. Die Story wird aus einzelnen Bildern zusammengesetzt, lebt aber von der Negierung des Einzelbildes. Eine lineare Aufreihung von Blickwinkeln ersetzt dessen exemplarische Perspektive. Sie ist zentralistisch auf Wirkung fixiert und zersplittert dafür ihre Blickwinkel bis ins nicht mehr Nachvollziehbare. Das Gesetz heißt Du sollst nicht die Überlegung darstellen, sondern ihr Ergebnis inszenieren. Der künstliche Aufwand muß dabei natürlich wirken, um die Tatsachen ihrer Kurzangebundenheit zu verschleiern. Die der Story konzeptionell auferlegte Abrundung verharmlost die Handlungen der Menschen und den Zustand der Welt, and andererseits verschärft das auf Hysterie ausgerichtete Zeitmaß ihrer Formen diesen Zustand in seinem Bezug auf die Autorität des Todes." (Vorlesung Bild und Film, WS 2010/11. In: Zeichnung oder Film, 2013).

(1996)

Zeichnung (230) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Ein Mosaik aus Pompeji, der Knochenmann als Mundschenk, ein Wasserträger, der ein Grab auffüllt. Als mehrere Meter hohe Wandzeichnung war er 1989 der Auftakt meiner Ausstellung Die Erschöpfung in der Kunsthalle Bremerhaven. In vier Zeilen aufgereiht die ersten achtunddreißig meiner Notizhefte seit 1974. Die eigene Stirn mit struppigen Haaren vor einer gefliesten Wand auf der Einladungskarte zur Ausstellung Seit ich blond bin, färbe ich mir die Haare in der XPO Galerie, Hamburg 1989. Der Pfeil, der den Boden des mit Wasser ausgefüllten Grabes als menschliche Silhouette beschreibt, weist in den Kopf des Jungen, der sich nackt aus einem Fenster beugt und dem Gerippe einen Stinkefinger zeigt. In Bremerhaven fotografiert und anonym zugeschickt bekommen von einem Fan. Es war heiß und staubig. Wir trotteten nach der Besichtigung der Bronzeskulptur Die Auswanderer von Frank Varga, die hinter dem Deich im Sand versank, ins Aladin Kino an der Rickmersstraße zur Preview des Films Der Zynische Körper, mit dem meine Firma danach pleite ging." (Aus: Black Blocks, Cinema Scope #46, 2011).

(1997) 

Zeichnung (231) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Vierunddreißig weitere Notizhefte stürzen aus dem Inneren eines kopfüber fliegenden Passagierflugzeuges, dem ein Teil seines Daches weggerissen ist. Ein spanischer Bauer - von Georg Riesner und Hans Namuth 1936 fotografiert - rührt mit einer Holzgabel im Loch des Flugzeugrumpfes. Ich sitze Anfang 1974 vor dem Gerippe eines Walfisches im Senckenberg Museum in Frankfurt auf einer langen Bank und stütze den Kopf mit der linken Hand auf. Silke Grossmann hat das fotografiert. Die Umrisse des Wales wurden in der Ausstellung zum besseren Verständnis des Betrachters in Relation zu seinem Skelett gesetzt. Ein vom Bildrand halbierter Knochenmann schüttet mir einen Krug Wasser auf den Kopf. Die Folter der Geschichte, die die Einzelnen ins Nichts entlässt. Eine militarisierte Religiösität. Ein Wissen, das nagt. Eine angerührte Saite, ein herausgekitzeltes Etwas. Zu minimal der Zeitraum, in dem bisher gesendet und empfangen wurde. Die Fülle der Interpretationen von Bakterien zerfressen, verloren in Zeitfenstern, die nicht offengehalten werden konnten." (Aus: Black Blocks, Cinema Scope #46, 2011).

(1997) 

Zeichnung (232) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Europa im Zugriff eines eisernen Handschuhs. Vierzehn nach Westen aus dem Bild driftende silberne Löffel und in Gegenrichtung aus Richtung Amerika eine langstielige Gartenharke, die an der Stirn meines Vaters kratzt. Die Hand aus Eisen, die Europa in der Klaue trägt, war für die Fachzeitschrift der US Marines das Sinnbild für Bolschewismus. Wer greift hier wie nach wem? Das Bemühen, persönliche Schuld und Sühne in diesem weltgeschichtlichen Reigen, in den man hineingeboren wurde, zu verankern, wurde zu einem utopischen Unterfangen. Klar war nur Eines: Das 'Wunder' im Wort Wirtschaftswunder waren nicht die Wirtschaft, nach deren Logik die Zerstörung noch immer die beste Voraussetzung für ein Wiedererstarken ist, sondern die Seelen der Überlebenden, die ungerührt weiterhin wirtschaftlich tätig sein konnten. Das Wort ist die Feier der Kälte des Überlebens, die dann an uns Kinder weitergereicht wurde. Diese Kette zu durchbrechen, gilt als Verbrechen an einer 'Natur', auf die sich auch schon die Nazis ihren abscheulichen Reim gemacht hatten." (Aus: Black Blocks, Cinema Scope #46, 2011).

(1984) 

Zeichnung (233) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Leonid Iljitsch Breschnew Ende der 70er Jahre in seinem Situation Room im Kreml vor zwei laufenden Fernsehprogrammen. Noch keine Anzeichen von Reizüberflutung oder gar Gemüsedasein. Ein von Osten hereinfallender Set von Küchenmessern samt Fleischgabel, Hackbeil und Wetzstahl. Der Knebelverschluß einer Existentialisten-Kutte aus den 60er Jahren verknüpft den Handgriff eines Messers mit dessen Schatten auf dem Gesicht von Magdalena Montezuma im Film Macumba von Elfi Mikesch, 1982. David Marc druckte die Zeichnung 1995 in seinem Buch Bonfire of the Humanities (Scheiterhaufen der Geisteswissenschaften) mit der Unterschrift ab: 'The best minds of Allen Ginsberg's generation were still accusing the radio of hypnotism in 1955'. Diese Klage über selbstgerechte, intellektuelle Shortcomings könnte heute fortgesetzt werden mit 'The best minds of Hape Kerkeling's generation will never get the difference between 35mm film and digital video.' A rather 'b'schssne Sit'ation!' - but who cares. Praxis leidet ja nicht von Natur aus unter Theoriebedarf." (From: Black Blocks, Cinema Scope # 46, 2011).

 (1984)

Zeichnung (234) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Reste der 6. Deutschen Armee bei Stalingrad auf dem Weg in die Gefangenschaft, eine kilometerlange Schlange durch den Schnee. Vierzehn Füße in Wollsocken, die sich am Feuer eines offenen Kamins wärmen. Das kollektive Strümpfestricken für Frontsoldaten sollte verschleiern, dass man sich schon längst an den Möbeln, der Bekleidung und den Haaren der in den KZs Ermordeten gütlich getan hatte. Als Gegenpol ein gußeiserner Heizkörper aus der Nachkriegszeit. Eine Schulmeisterin im Oskar-Schlemmer-Look beherrscht die Szenerie, die Karikatur einer Domina. Sie küsst die Spitze eines Zeigestabs oder Prügelstocks aus Holz und soll hier nicht 'zum Nachdenken anregen', sondern zum Lachen. Über dem Höllenfeuer schwebt eine Armmanschette aus Leder, die mit Nieten in der Formation des Sternbilds Großer Wagen besetzt ist. Elfi Mikesch hat sie mir 1981 vor den Dreharbeiten zu ihrem Film Macumba für meinen bruchgefährdeten, rechten Unterarm anfertigen lassen - zur Zeit der Fertigstellung von Normalsatz, zehn Jahre vor Der Zynische Körper." (Aus: Black Blocks, Cinema Scope #46, 2011). 

(1983) 

Zeichnung (235) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Im Vordergrund Reste der 6. deutschen Armee begleitet von russischen Wachmannschaften und ihren Hunden auf dem Weg durch den Schnee in die Gefangenschaft. Dazu drei pyramidenförmige Nieten aus der Formation Großer Wagen. Im Hintergrund ein Paket getrockneter Nudeln mit Angaben zu den darin enthaltenen Nährstoffen FIBER, WHEAT GERM, IRON. Meine rechte Hand mit der zweiteiligen Narbe am Unterarm zeichnet im Notizbuch meines Vaters auf dem Blatt mit seinen Eintragungen vom 1. Oktober 1941: eine Auflistung von Verletzten und Gefallenen, insgesamt 225. Er war als Soldat in Russland gewesen und hatte als Medikament zuletzt nur Schokakola in seiner Sanitätsausrüstung gehabt. Was das bedeutete, könne er nicht erzählen. Im Sinne der KZ-Betreiber wäre es logisch gewesen, die Deutschen im letzten Kriegswinter mit Wurst aus dem Fleisch der Ermordeten zu versorgen. Meine Narben am Arm hatten 48 Jahre nach ihrer Beibringung zu dem Kommentar geführt, 'An welchen Tierarzt sind Sie denn geraten?' Als ob Kinder hier früher mehr gegolten hätten als heute." (Aus: Black Blocks, Cinema Scope #46, 2011). 

(1983) 

Zeichnung (236) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Staatskapitalismus verleitet an Stammtischen zu höchsten Gefühlen. Polit-Darwinisten können nichts Schlechtes an dem finden, was sich in sicherem Abstand so vehement Bahn bricht. Aus der Entfernung wird verkündet, dass es keine Alternativen zum revolutionären Designerstaat gibt. Neunundzwanzig halbnackte und glatzköpfige chinesische Rekruten in dem von Frank Lloyd Wright 1935 designten S. C. Johnson Administration Building in Racine, Wisconsin, beweisen durch Wohlgenährtheit, was Sache ist. Die Säulen des Großraumbüros agieren als Stalaktiten der Vernunft, endlich ein Dach über dem Kopf. Von links gerät ein Scheiterhaufen für Menschen aus dem Dreißigjährigen Krieg ins Blickfeld. Immer wieder propagiert und von Weitem gern gesehen: der Verbrauch von Menschen für eine Sache. Eine Bewegung und ihre Toten, eine rasende Natur und eine in Zyklen auflodernde Geschichte: die Gesellschaft als Biest, die zerfetzte Haut der Zivilisation. Und diejenigen, denen es geschieht, haben den letzten Gedanken: 'Das darf alles nicht wahr sein.'" (Aus: Schwarze Blöcke, SchwarzHandPresse 2010).

(1999) 

Zeichnung (237) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Ein römisches Fussbodenmosaik aus dem Jahr 500 nach Christi im heutigen Istanbul: der Kampf eines Löwen mit einem Elefanten. So hätte man die Natur und ihre Teilnehmer gerne, sich selbsttätig eliminierend. Ah, und mit welch einer überragenden Intelligenz der Mensch die Tiere jagt und gefangen hält. Fünf Männer träumen davon auf heissen Marmorplatten im Cemberlitas Hammam von 1584. Ihre Assoziationsmotoren laufen auf vollen Touren und produzieren Chimären nackter chinesischer Rekruten, denen sie ihre Bären aufbinden können: vom Billiglohnland zur importierten Luxuslimousine. Schon ein altes Sprichwort wußte, dass Träume Scheißhaufen sind, die Geschichten erzählen. Das ist ihre Natur, sie entspringen dem Verdauungstrakt. Du musst aufwachen, damit sie dich nicht umbringen, und wieder einschlafen, wenn der Abschaum des Wirklichen nicht mehr zu ertragen ist. Dazwischen das Sekundenglück, der kleine Tod und sprunghaftes Vergessen. Erster Kommentar von Außerirdischen angesichts unseres unbelebten Planeten: 'Das muß die Liebe gewesen sein.'" (Aus: Schwarze Blöcke, SchwarzHandPresse 2010).

(1999) 

Zeichnung (238) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Revolutionärer Käse, mit dem Kopf durch die Wand: Die Krokodilstränen darüber, daß vormals so beliebte 'Linke' wie Mahler, Rabehl und Elsässer vom rechten linken Weg abgekommen seien, gebieten den Hinweis, daß die Erwähnten selbst nicht von einer Kehrtwendung ihrer Ansichten ausgehen würden. Kann man ihnen nicht schlicht zugute halten, daß sie schon immer waren, was sie sind? Wenn die einen die Revolution hervorzaubern wollten, indem man zuerst einen faschistischen Staat herbeibombt, gegen den das Volk dann revoltieren würde (wenn man nur wüßte, welches Volk das damals gewesen sein soll), wählen die anderen den legalistischen Weg einer Wahl, um den Staat umzuwälzen. Marsch durch die Institutionen nach Verschwörerart, und ein drängendes Verlangen danach, vom (jetzt haben wir es endlich) Wir sind das Volk–Volk geliebt zu werden. Ein Ponzi scheme des haltlosen politischen Versprechens, den Kapitalismus völkisch aushebeln zu können, das seiner Logik nach letztlich wieder in rassistische Raub-Mord-Aktionen ausarten muß." (Aus: arsenal, januar 20; dort fälschlich als Nr. 241 gekennzeichnet).

Ein Stiefelmann aus Plastik, der sich 1977 in die Wand meines Büros im Zippelhaus 6 in Hamburg bohrte. Wohngemeinschaftsterror auf der Südseeinsel Ureparapara, die von einer westlichen Filmcrew zwecks Beschreibung einer Insel heimgesucht wurde. Vernetztes schwarzes Geschirr. Teleskop-Antenne eines Kofferradios mit Schatten. Ein auf der Straße aufgelesener Zettel mit der Skizze einer "Donega-Schual", einer Gruppe Baracken, die von Hakenkreuzen umzäunt sind. Alles zerrissen und nur notdürftig zusammengesetzt.

(1984) 

Seiten