Zeichnung (169) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

 "NYC, August 1975. Die Ähnlichkeit eines Taxifahrers mit Josef von Sternberg trieb einen Keil in mein Empfinden von Zeit. Sie ließ die Stadt vor meinen Augen kollabieren. Er brachte mich zu einem Haus am Eingang des Holland Tunnels an der Hudson Street, Ecke Canal Street. Auf der Fähre im Hafen brachen meine Nerven von Rückblenden überwältigt endgültig zusammen. Ich packte meine Sachen und fuhr nach Westen, von Manhattan aus in die Wüste von Nevada, die ich nach zwei Tagen erreichte. Dort verlor ich mich im Glücksspiel. Was lernen wir daraus? An mangelnder Neugierde gescheitert! Alle Protagonisten meiner Träume, die ich hätte befragen können, lebten ja noch. Aber statt Fragen zu stellen, kannte ich damals nur Antworten. Mein Körper war davon erschöpfter, als ich es je wieder erlebt habe. Das Wunder der Gesichter, die alles zusammenbrechen und wieder aufleben lassen. Aber die Frage bleibt: Wer hat einmal so in deine Wiege geschaut? Z, S und E sind Anfangsbuchstaben von Namen von Personen, die ich vergessen habe." (Aus: arsenal, juli/august 16).

(1977)

Zeichnung (170) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Das Weltall mit Galaxienhaufen als dargereichte elliptische Scheibe über der San Blas Bay auf Gozo von den Mistra Rocks aus gesehen, kurz vor dem Anrollen tödlicher Milghuba Wellen. Eingeblendet sind die Zelte auf einer Strandpartie in Dänemark mit der Silhouette eines Freundes als Wellenreiter im Streifenmuster eines Surfbrettes. 1983 baute er unser Zweimannszelt direkt zwischen drei großen Familienzelten auf. Dann befaßte er sich mit den Jugendlichen, die sofort zur Stelle waren. Ich hatte eine schwarze Wolke im Gehirn und las Zeitung. Ein paar Teenager versuchten, meine Füße zu kitzeln. Ich zog mich ins Zelt zurück und den Reißverschluß zu. Die große Stunde meines Freundes: Er erteilte den Jungs und Mädchen eine Lektion über den Respekt vor der Privatsphäre. Sie waren beeindruckt. In Hamburg hatte er zuvor mit einem Hammer den Einwegspiegel in der Klappe neben der Polizeiwache an der Reeperbahn zerschlagen. Dahinter saß ein Beamter, der den Schwulen auflauerte. Eine Einrichtung des Innensenators Helmut Schmidt." (Aus: arsenal, dezember 13).

(2005)

Zeichnung (171) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"'Ich Habe Hunger. Vielen Dank!' zitiert die Typografie eines Bettlerschildes, das 1988 Teil meiner Ausstellung Der Untergang der Bismarck in der Zwinger Galerie in Berlin war. Für fünf DM am Tauentzien vom Galeristen im Auftrag des Künstlers erworben, wurde es zu einem Quadratzentimeterpreis von 1,75 DM gewinnbringend weiterverkauft. Dazu das Abbild eines Teenagers im Duschraum einer amerikanischen Prep School - aus Straight To Hell Nr. 47 aus dem Jahr 1980, als die Menschen noch nicht massenhaft mit Nuckelflaschen in der Hand in Sportstudios auftauchten. Er verdeckt seine Blöße mit seinen Jockey shorts. Eine Hand wirft ein Netz zu kurz in seine Richtung und weist zugleich mit einem Zeigestab auf den Magneten einer Elektronenbeschleunigungsanlage, deren gebündelte Strahlen aus der Bahn zu laufen scheinen. Am Strand eines Räuberbarons auf Long Island ist die übergroße Attrappe einer Haifischflosse angeschwemmt und verleiht der Gefährlichkeit all dieser möglichen Beziehungen eine gewisse Lächerlichkeit." (Aus: The End, Disko 22, 2011)

(1988) 

Zeichnung (172) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Details einer römischen Freskomalerie aus der Grabkammer eines Turmspringers in Paestum, 5. Jahrhundert vor Christi, mit der Silhouette des nackten Tauchers. Dazu der Einblick in eine Fabrikationsanlage für Gummihandschuhe aus dem 20. Jahrhundert nach Christi. Eine hell behandschuhte Hand zieht einen schwarzen Handschuh von einer der vielen Gußformen. Wir sind Inseln der Wahrnehmung, Singularitäten, Körper, die andere Körper und Geister verdrängen und trostlos durch eine Zeit gleiten, die uns kein Kontinuum mehr darstellen kann. Hier ist ein Blick gescheitert, dort ist er wieder eingefangen worden, im Tal der Tränen der Fotografie die Konstellationen des Wirklichen preisend. Oder verwirklicht durch ein Mosaik kleiner Steine, das eine vorübergleitende Bewegung zum Stillstand bringt und in unser Bewußtsein hämmert. Wie eine Theorie, die isolierte Blicke zu einer Sinnbaracke zusammennagelt, so als habe sie alles gesehen. Das alles schreit, Ich werde gelebt haben, aber ich habe nicht gewußt. Es ist über mich gekommen." (Aus: arsenal, juni 15)

(1993) 

 

Zeichnung (173) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"(Mekonium) + Arielette. Sie war, lange vor der Markteinführung von Megaperls, eines der ersten Gadgets, die man Waschmittelpackungen beigab, um Kunden zu binden. Für Hausfrauen von damals, die sich angeblich Gedanken über den Weißheitsgrad ihrer Wäsche machten - ein Plastiksäckchen mit propellerförmigen Einfüllstutzen, unter der Chimäre eines doppelt gefickten Selbstmörders. Daneben, positiv ausgeführt, der unbeholfene Versuch eines Mannes, sich mit der nackten Brust in ein Brotmesser zu stürzen. Im Himmel über Les Arènes de Picasso von Manolo Nunez-Yanowsky, 1985, in Marne-la-Valée bei Paris, dem Rad eines mit Totenschweiß bedeckten Schweizer Käses, in den der Hagel Löcher schlägt. Der Messermann war das Motiv einer Postkarte zur Ausstellung Der Untergang der Bismarck und das eines T-Shirts zum Produktionsstart des Films Der Zynische Körper, der dieses potemkinsche Dorf des Sozialstaates in seinen Reigen einbaute. Die Engel Roy (Klaus Behnken) und Jon (John Erdman) singen darin das Lied Innsbruck, ich muß Dich lassen von Heinrich Isaac." (Aus: The End, Disko 22, 2011).

(1993) 

Zeichnung (174) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Die Dunkelphase einer Sonnenfinsternis am Hambacher See am 11. August 1999. Zwei nackte Männer mit Boxhandschuhen verschwinden zwischen den hohen Gräsern am Seerand. Ein Rhönradfahrer aus dem Fotoband In Licht und Sonne von Kurt Reichert aus den 30er Jahren überquert die Liegewiese, ebenso wie der Schatten der tieffliegenden Air Force One mit Präsident Clinton an Bord auf dem Weg von Schönefeld nach Moskau. Oder war es nur eine zweite Air Force One, die zur Ablenkung die gleiche Strecke flog, ohne den Präsidenten an Bord? Die Männer zwischen den Gräsern sind aufgeschreckt und fühlen sich belästigt von dieser möglichen Doppelung. Wie Hasen auf Hinterbeinen schnuppern sie in die Luft, um eine Witterung aufzunehmen. Alles riecht nach Abgasen, der Raum verdichtet sich, eine Zeitanomalie setzt ein und am Himmel erscheint als Gespenst ein futuristisches, dreieiiges Geschlechtsorgan mit Düsenantrieb. Alle tun so, als hätten sie nichts gesehen, wenden sich sprachlos ab und gehen vermehrt ihren drängenden Geschäften nach." (Aus: arsenal, september 20).

(1999) 

 

Zeichnung (175) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Pornografie (I), 1955: in der Mitte oben das internationale Kinderzeichen für 'Arsch', darauf zielend die von zwei Daumen gehaltene Spitze eines Penis. Vier Pornobilder auf Demonstrationsschildern. Links oben Siegfrieds Lindenblatt, aber es gibt keine Ausnahme, die Pornografie des Westens ist ebenso aufklärend wie staatstragend. Sie hat ihren Ursprung in den realpolitischen Phantasien über bedingunglose Verfügbarkeit. Das militärische Opfer ist ihre erste Praxis. Theoretisch durchexerziert wurde Pornografie von de Sade, der den bürgerlichen Entwicklungsroman ad adsurdum führte: als Wiederholungszirkel, der das persönliche Ende des phantasierenden Vollstreckers ausklammert. Sterben tun immer die Anderen. Ein Vogel Strauß steckt seinen Kopf in den Sand an dem Küstenstreifen in Nordspanien, an dessen Felsen der Öltanker Amoco Cadiz zerschellte. Vor den Ausschlußmechanismen unserer Wirtschaftsdiktaturen sind solche Verbeugungen angebracht. Angesichts verbrannter Erde gilt eine letzte Utopie: Keine Zeugen dulden!" (Aus: arsenal, november 14).

(1983)

Zeichnung (176) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Unten links das Zitat einer Zeichnung von 1956, eine Sandkiste mit Kindern und Spielsachen darin, dahinter ein Sprungbrett. Vom Rand der Kiste aus werden peruanische Erdzeichen projiziert. Zu erkennen sind die Konturen eines Mannes, der eine weit ausladende Armbewegung ausführt und die eines Holzhauses mit vier Appartements. Das Haus stand in Johnson City im Staat New York, 1974,  und die Wohnung oben links war 'ein Platz zum Weinen und zum Warten auf die Morgendämmerung ... exklusiv reserviert für Durchreisende, die keine andere Wahl hatten, überseht mit rotbraunen Insekten und Wanzen, die auf den Betten und an den Wänden entlangkrochen.' So jedenfalls hat Josef von Sternberg den Schlafraum im Hamburger Hafen beschrieben, in dem er als Siebenjähriger vor seiner Überfahrt nach Amerika ausharren musste. Eine Turmspringerin im einteiligen Badeanzug durchdringt diese Zeichen mit einem Kopfsprung in schweres Wasser. Darin spiegelt sich das Innere der Sandkiste als Nachbild." (Aus: arsenal, november 08).

(1977) 

Zeichnung (177) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Ein autistisches Aquarium, das Innen und Außen eines Kopfes, mit einer vorbeirauschenden Welt. Der Körper einer Wasserski-Läuferin im einteiligen Badeanzug kurz vor dem Start in Wartestellung unter der Wasseroberfläche. Wellenkräusel verhindern eine klare Ansicht ihres Kopfes. Ein Wassertropfen zerlegt das weiße Licht in die Spektralfarben Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau und Violett. Der aufgelöste Horizont als fluide Trennungslinie zwischen den Medien Luft und Wasser. Paradoxe, jeweils aktuelle Brechungsgesetze von Licht in einem Wasserglas - unter und über Wasser - im Lokal Zum schmierigen Löffel in einer restlos begriffenen Welt. Ich zog es vor, nicht mehr wissen zu wollen, was unter der Oberfläche der Fall war. Der Horizont kehrt zurück als das sphärisch jeweils begrenzte Blickfeld der Einzelnen und ihrer Betrachterstandpunkte. Ihr Radius ist eine intime Größe. Wie auch der Regenbogen sich von jedem Standpunkt aus anders oder gar nicht realisiert. Einen inneren Horizont blicke ich nicht, so eingehämmert ist er." (Aus: arsenal, juni 11).

(1976) 

Zeichnung (178) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Zwei Radfahrer, deren Silhouetten Schlagschatten auf eine ebene Straße werfen, von Silke Grossmann Ende der 70er Jahre in Amsterdam fotografiert. Ihr Profil ist rechts im Anschnitt zu sehen. Sie blickt in einen von Geschichte definierten Raum von unendlicher Tiefe und Höhe, in dem 1944 während der Invasion in der Normandie britische Fallschirmspringer vom Himmel herabschwebten. Viele der Soldaten wurden im Flug abgeschossen. Auf dem Gelände des jetzigen Flughafens Schipohl gab es zu jener Zeit Kleingärten, in deren Hütten der Schweizer Kunstfreund und Hotelier Hans Obrecht und der spätere Direktor des Stedelijk Museums, Willem Sandberg, jüdische Kinder versteckt hielten. Dreißig Jahre später malte Obrecht seiner kranken, ans Bett gefesselten Frau in ihrem Schlafzimmer im Hotel Amstelrust an der Amstel 252 eine Tür an die Zimmerdecke, weil sie beim Erwachen an der Vorstellung litt, in einem Raum ohne Ausgang eingesperrt zu sein. Die Kraft des Imaginären sollte den Realismus der Angst überwinden und tat es auch." Aus: arsenal, mai 17

(1977) 

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