Zeichnung (139) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Ein weiterer Verkehrsunfall: Zwei Auferstehende aus Luca Signorellis Die Auferstehung des Fleisches im Dom S. Maria zu Orvieto neben einem brennenden Autowrack. Den einen kleidet noch die Maske eines Totenkopfs, der andere betrachtet schon den Boden, zu dem er bereits geworden war. Dabei reckt er sein Hinterteil keck in die Höhe. Signorelli wusste, wozu Fleisch gut ist, auch als Vorlage für eine individuelle Abfuhr. An den Stäben, die aus den architektonischen Blümchenrosetten herausragen, drei pornografische Skulpturen aus Stein, vorgefunden an romanischen Kathedralen aus dem 11. und 12. Jahrhundert in Frankreich. Primäre Geschlechtsteile im Hardcore Format sind die Stars dieser Darstellungen. Erlöst man die Kirche von ihren guten Absichten, hatte sie schon immer etwas zu bieten. Der gemeine Mensch ist dagegen das augenscheinliche Nichts, dem sein Warencharakter im Hals steckenbleibt. Im Hintergrund die Skizze eines Säulensockels im Kloster Maulbronn - nichts als Fratzen und harmlose Stilisierungen, Softcore eben und wenig erbaulich." (Aus: Schwarze Blöcke, SchwarzHandPresse 2010).

(1996) 

Zeichnung (140) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Fünf pornografische Skulpturen aus Aquitanien vor der Skizze eines Säulensockels im Zisterzienserkloster Maulbronn. Aus dem Petite Grammaire de l'obscène von Christian Bougoux, der sie als erster abgezeichnet und enzyklopädisch aufgelistet hat. Der ursprüngliche Ort ihrer Anbringungen unter den Dachfirsten und an den Außenwänden mittelalterlicher Kirchen erscheint logisch: Die Todsünde musste vor der Tür bleiben, aber doch anschaulich unterrichtet werden können. Pornografie war schon immer Lebenshilfe und gesellschaftliche Notwendigkeit. Wer sonst nimmt sich der unbestreitbar vorhandenen, überschüssigen Energien an. Was nicht sein darf, muß überlebensgroß plakatiert werden, um die Nichtigkeit des Konsumenten und ihrer Regungen zu demonstrieren. Hier ragen die Zurschaustellungen an Stäben aus den steinernen Rosetten eines Torbogens hervor, an dessen Fuß ein Motorradfahrer verunglückt ist. Daneben feiert Die Auferstehung des Fleisches von Luca Signorelli im Dom zu Orvieto verzückt den nackten Rücken eines der Wiederauferstehenden." (Aus: Schwarze Blöcke, SchwarzHandPresse 2010).

(1996) 

Zeichnung (141) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Ein Hotel in Galveston, Texas 1989, das Ende der Welt. Ein Sturm fährt durch die verbrannte Landschaft von Iwo Jima. Eine Riesenwelle ist im Anmarsch auf eine Hütte auf Stelzen. Darüber ein dicht über dem Boden schleifendes, enthäutetes Gesicht, dessen Stirn in die schwarzen Orkanwolken hineinreicht. Aus dem Antlitz quellen Adern, Nervenstränge und Muskeln, an denen wilde Hunde zerren. Die Augen sind geschlossen, das Gesicht verharrt in gleichgültiger Trance. Der Wirt und die Bedienung der Melancholie ist der Mensch. Er vererbt und überträgt sie. Die Zeit als einen Stoff begreifen, der verschiedene Texturen aufweist. Sie gleitet vorbei, und sie ist sperrig. Die Verwahrlosung der Zwischenräume. Ich sah mich wochenlang zu festgesetzten Zeiten am Tag den Hund ausführen. Dazwischen eine Raserei von Zeit, die es mir unmöglich machte, mich an irgendetwas zu erinnern. Ich lebte in einem Zeitraffer. Ich habe spät begriffen, daß die Zeit ein Geschenk ist. Aber dieses Wissen konnte sich gegenüber ihrem Tun nicht behaupten." (Aus: flypaper #5, 2010).

(1997) 

Zeichnung (142) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Zwei Frauen tasten sich in einem Büro gegenseitig die Lymphdrüsen ab, um eine mögliche HIV-Infektion zu diagnostizieren. Im Hintergrund grobe Daten aus der Vermessung eines Gehirnrindenfeldes zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Gelesen wird, was auf den Tisch kommt. Die Furcht vor dem eigenen Mikrokosmos wird in den Makrokosmos projiziert, und der Makrokosmos in die Fingerspitzen, die nichts Gutes verheißen. Sechs stark vergrößerte Mouches volantes gleiten als Kleinstlebewesen verkleidet über die Bildfläche. Links oben ein einfacher Knoten in einem einzelnen schwarzen Haar, enorm vergrößert. Daß wir den Maßstab und die Relationen für unsere Wahrnehmungen wählen können, ist ein Resultat menschlichen Erfindungsgeistes. Sie dann zu interpretieren bleibt weiterhin eine Kunst. Gedanken haben die Angewohnheit, sich in etwas zu verlieren. Das ist ihre Arbeit. Aber statt gedankenverloren dazustehen, biegen die meisten Menschen zu früh ab, in die Krankheit der Rechthaberei. Der Rest steht allein da oder geht seines Weges." (Aus: arsenal, november 17)

(1996) 

Zeichnung (143) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Vierunddreißig weitere Notizhefte stürzen aus dem Inneren eines kopfüber fliegenden Passagierflugzeuges, dem ein Teil seines Daches weggerissen ist. Ein spanischer Bauer - von Georg Riesner und Hans Namuth 1936 fotografiert - rührt mit einer Holzgabel im Loch des Flugzeugrumpfes. Ich sitze Anfang 1974 vor dem Gerippe eines Walfisches im Senckenberg Museum in Frankfurt auf einer langen Bank und stütze den Kopf mit der linken Hand auf. Silke Grossmann hat das fotografiert. Die Umrisse des Wales wurden in der Ausstellung zum besseren Verständnis des Betrachters in Relation zu seinem Skelett gesetzt. Ein vom Bildrand halbierter Knochenmann schüttet mir einen Krug Wasser auf den Kopf. Die Folter der Geschichte, die die Einzelnen ins Nichts entlässt. Eine militarisierte Religiösität. Ein Wissen, das nagt. Eine angerührte Saite, ein herausgekitzeltes Etwas. Zu minimal der Zeitraum, in dem bisher gesendet und empfangen wurde. Die Fülle der Interpretationen von Bakterien zerfressen, verloren in Zeitfenstern, die nicht offengehalten werden konnten." (Aus: Schwarze Blöcke, SchwarzHandPresse 2010).

(1997) 

Zeichnung (144) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Ein Mosaik aus Pompeji, der Knochenmann als Mundschenk, ein Wasserträger, der ein Grab auffüllt. Als mehrere Meter hohe Wandzeichnung war er 1989 der Auftakt meiner Ausstellung Die Erschöpfung in der Kunsthalle Bremerhaven. In vier Zeilen aufgereiht die ersten achtunddreißig meiner Notizhefte seit 1974. Die eigene Stirn mit struppigen Haaren vor einer gefliesten Wand auf der Einladungskarte zur Ausstellung Seit ich blond bin, färbe ich mir die Haare in der XPO Galerie, Hamburg 1989. Der Pfeil, der den Boden des mit Wasser ausgefüllten Grabes als menschliche Silhouette beschreibt, weist in den Kopf des Jungen, der sich nackt aus einem Fenster beugt und dem Gerippe einen Stinkefinger zeigt. In Bremerhaven fotografiert und anonym zugeschickt bekommen von einem Fan. Es war heiß und staubig. Wir trotteten nach der Besichtigung der Bronzeskulptur Die Auswanderer von Frank Varga, die hinter dem Deich im Sand versank, ins Aladin Kino an der Rickmersstraße zur Preview des Films Der Zynische Körper, mit dem meine Firma danach pleite ging." (Aus: Schwarze Blöcke, SchwarzHandPresse 2010).

(1997) 

Zeichnung (145) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Unerkannte Nägel in den Köpfen, das spiralförmige Verlassen einer westlich geprägten Vorstellung von Leben: Am Ende des Romans Let It Come Down von Paul Bowles drückt der Amerikaner Nelson Dyar nach seiner Flucht aus der Internationalen Zone Tangers seinem einheimischen Führer Thami Beidaouis im Majoun-Rausch einen Nagel durch den Gehörgang ins Gehirn. Von außen ist nur ein Rinnsal von Blut sichtbar - unscheinbar, aber beredt. In den verschiedenen Regionen des Gehirns der Mörder als Akrobat, Ringer und Schiedsrichter. Du bist gut gewachsen, mein Freund, aber Dein Leben ist so sinnlos in der westlichen Welt. Der Mord als letzter Ausweg, um mit der Welt der Polizisten in Kontakt zu treten. Noch kannte man es nicht, das Universum des deutschen Fernsehens, in dem Abend für Abend sozialdemokratische Kommissarsduos die Welt erklären. Noch stand die Quality of Life in keinem Parteiprogramm. Ich bin krank, also bin ich, resümiert ein redseliger Kulturwissenschaftler.  Mit anderen Worten: Augen sind Zeitgenossen der Zähne." (Aus: arsenal, dezember 12).

(1994) 

Zeichnung (146) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Lifestyle-Käse: Die Verwischung der Grenzen zwischen Lebensstil und Kunstprodukt, gemeinhin gefeiert als „Leben“, das, wie man weiß, nicht lebt, ist spätestens seit D’Annunzios Treiben Legende. Daß er seinen Kitsch und seine Drogensucht als gepampert reicher Mann ausleben durfte, enthebt seinen Inszenierungen nicht dem Vergleich mit denen von, sagen wir mal, Jack Smith, der seine lukrativen Beziehungen nur geschickt verbarg. Dieser wußte von der normativen Kraft der street credibility, jener von der bindenden Kraft des Neids. Arrested development ist in beiden Fällen zu konstatieren. Viele Künstler leben in Armut, aber seit wann ist Armut eine Kunst? Auch wird Kunst durch Armut nicht geadelt. Das Ringen um Anerkennung, daß allzu oft vor der Haustür der Bourgeoisie und ihren Politikern als Bettelnummer ausgetragen wird, ist ein Akt autoritärer Fixierung. Daß man die Armut und ihre Gründe analysiert, ist noch lange keine Kunst, sondern zuerst einmal eine Wissenschaft. Die Armut darzustellen, kann allerdings eine sein." (Aus: arsenal, dezember 20).

Uncle Fishhead. 

(1993) 

Zeichnung (147) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Ein Brainstorm auf einer Holzterrasse am Atlantik in Stone Harbour, New Jersey, 1975. Der Ursprung - A WELL - meiner Miscellanea-Filme ist die Zeichnung La Pelouse von Georges Seurat. Deren Kohlepartikel kommentieren die jeweiligen Aktualisierungen der Welt durch Rasterpunkte und Codes: vom Konkreten zum Abstrakten und wieder zurück, eine komplette Virtualisierung. Ausgehend von einem arabischen Hammam die Beschreibung einer imaginären Wanderung, im Uhrzeigersinn: der von Touristenbooten ausgeleuchtete Cruisingpark am Quai d'Austerlitz in Paris, Gabriele d'Annunzios Vittoriale am Gardasee, eine Lockheed T-33 an einem Swimming Pool in Del Rio, Texas, das Gemälde Die Beerdigung des Grafen Orgaz von El Greco in Toledo, die endlichen Variationen zweidimensionaler Unendlichkeitsmuster auf den Kacheln der Alhambra in Granada, Auguste Rodins Porte de l'enfer in Zürich, die Ruinen von St. Pere de Rodes in den Pyrenäen, die Fahrten des US-Flugzeugträgers Ticonderoga im II. Weltkrieg und der architektonische Brutalismus im saudi-arabischen Rhiad." (Aus: Zeichnung oder Film, 2013).

(1994) 

Zeichnung (148) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Ein Wechselspiel von Schauspielerei und Regie vor der Stahlkonstruktion der Weserbrücke bei Uesen in Niedersachen. Unter der Brücke laufen zwei stämmige Frauen aus einem Gemälde von Pablo Picasso aus seiner neoklassizistischen Periode. Die Brücke war 1966 ein Drehort des Films How I Won the War von Richard Lester, mit John Lennon. Ein Komparse trägt darin als deutscher Soldat auf dem Rückzug ein großes kubistisches Gemälde von Picasso über den Fluß. How funny, diese Engländer, und wie richtig gedacht. Kubismus hat mir schon als Kind imponiert. Unten links verschwindet ein Mann kopfüber in einer öligen Flüssigkeit. Rekapitulation: Die Regiestrahlen (DIR) treffen auf den konvexen Handspiegel des Spielens (ACT). Der Spiegel könnte auch ein mit einem Pik As besticktes Sitzkissen sein. Die Strahlen des Dirigierens treffen auf der Spiegeloberfläche aber auch auf die parallel ausgerichteten Sehstrahlen der Betrachter, die im Standpunkt des Regisseurs gebündelt werden. Eine von allen Enden her zu begreifende Korrelation." (Aus: arsenal, märz 10).

(1993) 

Beim Zappen durch das Video-Programm im Flugzeug von Paris nach Los Angeles auf das Gesicht des Schauspielers gestoßen, mit dem ich die Hauptrolle von Second Nature besetzen wollte. Er spielte eine größere Nebenrolle im Arthouse-Movie eines Blockbuster-Regisseurs – ein Film vollgestopft mit einer Vorstellung von Kunst, die einen aufstöhnen ließ: State of the Art der Kitschgestaltung...

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