Zeichnung (10) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Als alles wieder aufgebaut war, begann in der Bundesrepublik Anfang der 70er Jahre eine zweite Welle umfassender Renovierungskampagnen. Weltverbesserung und Aufrüstung durch Asbestverschalungen, Rigipswände und Glasbausteine. Hier: Projekt Windfang, die Haustür als Zentrum der Identitätsbildung, das Vordach als Damoklesschwert. Vor dem Haus Platten aus Beton, in deren Ritzen man Gifte gegen Graswuchs spritzte. Und in die Ausgänge der Ameisenbauten puderte man süßliches E 605. Dazu Wegwerf-Instruktionen für die braunschwarzen Polaroidnegativ-Abziehfolien. Eine amerikanische Mülltonne fliegt als universales Emblem über einem Friseurstuhl, den wir aus dem Sperrmüll vor dem Zippelhaus geholt hatten, zu dem wir ihn später wieder zurückbrachten. Dahinter die zwei Arten ein "Y" zu schreiben auf der Seitenfläche eines kastenförmigen Flugroboters. Eine Reminiszenz an die Waterbugs in NYC – riesige, fliegende Albino-Kakerlaken. Zwei schwarze Sperrholzplatten schützen die beim Ausrasieren der Specknacken nötige Intimsphäre." (Aus: arsenal, märz 14).

(1976)

Zeichnung (11) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Johnson City im Staat New York an der Grenze zu Pennsylvania, August 1975. Mein Einzug in das obere linke Apartment eines Hauses für vier Parteien an der Sherman Street. Die Öffnungen der vorgesetzten Veranden sind mit dunklen Drahtgittern bespannt und verheißen nichts Gutes. Ein Moskitonetz aus NYC wird herabgelassen und eingeholt. Wir rauchen Gras und hören The Soulful Sound von Jimmy Reed. Ich trage eine schwarze Zimmermannshose aus einer Schneiderei in Hamburg-Veddel und ein zweireihiges, graues Jackett aus der Altkleidersammlung des Roten Kreuzes. Ich kann mich kaum noch bewegen, schwebe aber langsam an der vorderen Fassade des Hauses empor. Eine Leinwand bewegt sich im Wind. Im Schweben verändert sich meine Position um 90 Grad. Auf der Höhe des Daches angelangt blicke ich über das Haus hinaus auf die Skyline der Triple Cities: Die Gebäude der Schuhfabrik von George F. Johnson, der der Stadt seinen Namen gab, werden sichtbar; dahinter die der IBM-Mutterfabrik in der Nachbarstadt Endicott und die sanften Hügel von Binghamton." (Aus: Zeichnung oder Film, 2013).

 (1976)

Zeichnung (12) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Ein Vorhang über Nadur auf Ghawdex, der zweitgrößten Insel des maltesischen Archipels, schiebt sich zwischen Europa und Afrika. Die Ansiedlung auf dem Höhenrücken blieb mir lange fremd und verschlossen. Die Zeichnung stammt aus einer Zeit, in der ich den Ort immer nur zügig durchquerte und keineswegs daran dachte, mich dort niederzulassen. Erst viel später kam mir der Ortsname Nadur vor wie eine Abmilderung von Natur. Vielleicht ist dies eine Ahnung gewesen: Ein aus der schlottrigen Hose eines Trainingsanzugs ragender Fuß setzt im nächsten Moment vorsichtig auf dem felsigen Boden auf. Ein Code-Ritter. Vier alchimistische Zeichen für Tod zieren sein rechtes Hosenbein. Auf der Kuppe eines Tafelberges ein Hausbau mit einer großen Terrasse als Vision - das B-B-Haus von ARTEC im Burgenland. Heimat reimt sich so wenig auf Herkunft wie Zukunft auf Vergangenheit. Zwei mit Mandeln bestückte Schokoladenblöcke bilden die Vorlage für die Oberflächenstruktur einer interaktiven Fassade, die jeden erdenklichen Code übersetzt." (Aus: arsenal, märz 13).

(2005) 

Zeichnung (13) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Orvieto, 13. September 1990. Himmel und Hölle, Wiederauferstehung. Auf der Suche nach einem von Pier Luigi Nervi erbauten Flugzeughangar aus den 30er Jahren. Wahrscheinlich existiert das Gebäude nicht mehr. Hier die Tragkonstruktion des Daches mit der Toraufhängung. Rechts schlägt ein Skispringer in korrekter Körperhaltung kopfüber in den Boden. Links assistiert ein Geburtshelferengel der schwarz eingefärbten Seele des Grafen Orgaz aus El Grecos Gemälde Die Beerdigung des Grafen Orgaz dabei, in den Himmel zu schlüpfen. Auf Gegenkurs dazu die brennenden Reste eines einmotorigen Sportflugzeuges. Das Wort Ordet ist in seiner Typographie aus der Titelsequenz des Films Ordet (Das Wort) von Carl Theodor Dreyer übernommen. Im Film erscheint es negativ in eine jütländische Landschaft mit Strohdachhaus einkopiert. Die Schrift bildet dort ein Gegengewicht zu den hellen Wolken am düsteren Himmel. Auch im Filmtitel steht nach dem Wort ein Punkt. Das Scheitern und dann eine Erleuchtung, wie eine Behauptung, als Ereignis." (Aus: flypaper #5, 2010).

(1999) 

Zeichnung (14) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"In Hamburg, 1975, als es noch "Leitmedien" gab.  Manchmal kam es vor, daß sich am Eingang zur Tiefgarage des Spiegel-Hauses an der Hamburger Brandstwiete eine Frau mit einem Umschlag in der Hand postierte, den sie wie ein Schild vor sich hielt und auf dem geschrieben stand: "Für Rudolf Augstein persönlich".  Der Wachtturm? Die Mutter von Julian Assange? Als würde das einen Unterschied machen. Dazu ein Traum, geträumt in der benachbarten Kleinen Reichenstraße: R = Es beginnt zu regnen. Drei Radfahrer schweben auf einem Ring aus Stahl an einem Fallschirm ins Meer. Ein fahrerloser PKW rast die Küstenstraße entlang. Vor seiner Windschutzscheibe ist ein schwarzes Tuch aufgespannt, in das von allen Seiten her Blitze einschlagen. Auf seinem Rücksitz sitzt ein Geschäftsmann auf einer Erbse. Nebenan im Afrikahaus druckt Hermann Gremliza in konkret die von mir in Kalifornien übersetzten, wirren Schriften von Charles Manson ab. Um ganz sicher zu gehen, lässt er dazu den DKP-Frischling Martin Walser eine bewahrpädagogische Einführung schreiben." (Aus: Zeichnung oder Film, 2013).

( 1975)

Zeichnung (15) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Der Bug eines Totenschiffes im Indischem Ozean mit zwei Riesentränen aus Murano-Glas an einem Balancierstab. Ein klarer Horizont, das Meer ist leicht bewegt. Vor der Lichtseite des Schiffes die Silhouetten dreier Fallschirmspringer kurz vor ihrem Aufschlag auf der gekräuselten Wasseroberfläche. Sie haben nicht rechtzeitig an ihren Reißleinen gezogen. Aus der Ferne nähert sich in Überschallgeschwindigkeit ein amerikanischer Stealth-Bomber. Eine Holzkonstruktion, an die eine Riesenkrake genagelt werden soll, ist als 'Kreuz' auf einem Felsen errichtet worden. Ein kleiner Junge in kurzen Hosen nuckelt traumverloren an der Bordüre eines Teppichs, mit dem er sich einzuhüllen versucht. Ein Traum ohne Schwerkraft, Tote, Folter, Tränen und Religionen. Noch ist nichts geschehen, und es herrscht eine Stille wie die zwischen dem Abwurf und dem Einschlag einer Bombe. Eine alternative Gegenwart steht unmittelbar bevor. Es bleibt fraglich, in welches Bewusstsein sie vordringt. Wie auch das Bewusstsein fraglich bleibt, in das sie eindringen wird." (Aus: Zeichnung oder Film, 2013).

(2007) 

Zeichnung (16) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Ein Stealth-Bomber verharrt im Tiefflug über den Ortskoordinaten eines kommenden Ereignisses. Ein Tintenfisch ist als Religionsstifter an ein 'Kreuz' genagelt worden. Die Holzkonstruktion wurde seinem Körperbau angepasst. So wie auch das Kreuz der Christen die menschlichen Maße ihres Gottes abstrahierend nachvollzieht. Aber Tintenfische nageln sich nicht gegenseitig an Kreuze. Wie auch ein im Bett liegender, schlafender Mensch nicht zu einem Emblem für eine Religion werden könnte. Es fehlt die Dramatik des erduldeten Schmerzes, des ertragenen Verrates und der universalen Vergebung - das Elixier ihrer Existenz, ein Realitätsbewusstsein, das alles verzehrt und verzerrt. Ein menschliches Paar hält sich im freien Fall aus dem Nordturm des World Trade Centers an den Händen, kurz bevor es auf einem Sarg aufschlägt. Der Sarg ist von einem artifiziellen Flammenmeer umgeben. Noch sind an seinen Seitenflächen Muster eines kaukasischen Graf-Teppichs aus dem 15. Jahrhundert erkennbar. Unzerstörbar in jenem Universum, untröstlich vorbei in diesem." (Aus: Zeichnung oder Film, 2013).

(2007) 

Zeichnung (17) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Eine grüne Gartenpforte GG in Achim in den 50er Jahren, von Halbstarken nachts in den Graben am Fuße des Bahndamms geworfen, an dem unser Haus stand. Zweimal am Tag raste der Fliegende Roland auf seiner Fahrt von und nach München vorbei und löste bei mir Fernweh aus. Wir spielten Ich erkläre den Krieg auf dem Sandweg vor dem Haus. Die beteiligten Länder, die wir Kinder vertraten, hießen Deutschland, USA, Frankreich und Russland. Josef von Sternberg begann mit seinen täglichen Besuchen. Er war ramponiert von einer Reise in die Südsee. Ratten waren über ihn hinweggelaufen - wie die Insekten in dem Auswandererquartier im Hamburger Hafen, das er in seiner Autobiographie Fun in a Chinese Laundry geschildert hat. Seine Rache gegenüber einer terroristischen Natur lebte er aus, indem er einen ihrer Dschungel in einer Turnhalle in Kyoto für seinen Film Anatahan künstlich nachbauen ließ und ihre grünen Blätter mit silberner Farbe überzog, damit sie auf Schwarzweiß-Film besser zur Wirkung kamen. Das leuchtete mir sofort ein." (Aus: arsenal, september 12).

(1975) 

Zeichnung (18) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Hamburg, 1978. Beim Gerede von Heimat ist darauf zu achten, dass ein jeder den Kapitalismus als die seine anerkennen möge, denn eine andere gibt es nicht. Wir sind frei im Sinne von begrenzt verwertbar, den Partikularinteressen unseres Wirtschaftsgesetzes ausgeliefert. Dieser Realität ein transzendental umfassendes Seinsprogramm entgegensetzen zu wollen, artet nur in völkischen Schwachsinn aus. Da sterbe ich lieber als Ware, die keinen Markt gefunden hat. Alles andere ist zu persönlich, nicht intelligent genug und deshalb verbrecherisch. Fürsprecher dieses Systems aber sollten den Mund halten, denn es ist per se menschenleer. Die Skyline von Achim in den 50er Jahren, bei Tag und bei Nacht und seitenverkehrt auf den Kopf gestellt. Tatsachen, die für sich sprechen: Die Zinkwanne im Garten, in der einmal pro Woche gebadet wurde, eine zwei Zentimeter große Ziermuschel auf der Kommode, der blühende Zweig unseres Kirschbaums, das Namensschild meines Schulheftes, eine Aktenlitze und der angedrohte Abwurf einer Atombombe." (Aus: The End, Disko 22, 2011).

(1978)
 

Zeichnung (19) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Am ersten Schultag, 1954 in Niedersachsen, mit meinem Stiefopa vor einer Hecke und einer Edeltanne in unserem Vorgarten am frisch angelegten Steinbeet. Er erzählte mir von einem Eisernen Vorhang quer durch Deutschland. Dessen Konstruktion dachte ich mir als verschraubtes Stahlgerüst. Ich fragte mich, wie es im Himmel aufgehängt sein könnte. Auf der anderen Seite war es sicherlich tief im Boden verankert. "EV" = Eiserner Vorhang = e.V. = eingeschriebener Verein = ev. = evangelisch. "2" ist die Zahl, die eine Lehrerin meistens in die rechte untere Ecke meiner Zeichnungen schrieb. 1 = sehr gut, 2 = gut, 3 = befriedigend, 4 = ausreichend, 5 = mangelhaft, 6 = ungenügend. "4" war unsere Hausnummer an der Straße Am Bahndamm hinter der Hecke. "22" ist schon immer meine Lieblingszahl gewesen. Vom Tornister auf meinem Rücken hängt der Wischlappen für die Schreibtafel aus Schiefer. Das transparente Brotauto ist ein Symbol für die dicklich süße, hellbraune Suppe aus Brotresten, die meine Großmutter damals oft für uns kochte." (Aus: arsenal, dezember 10).

(1977) 

Seiten