Zeichnung (319) aus DIE BASIS DES MAKE-UP
Ein goldener Herbsttag in NYC, 1974. Ich schwebe wie ein Teppich über dem Boden, emporgehoben durch die Geräusche eines Kühlschranks, eines Generators, des Westside-Highways, der Canalstreet und der Vorstellung von Schnee in der Luft und Wasser, in deren Wellen ich AIR schreibe. Artist In Residence, endlich aus der Haut gefahren und kein Verrückter mehr.
(1974)
Erstveröffentlichung in BOA VISTA 2, Hamburg 1975
"Im November 1974 hausten wir im elften Stock eines Bürohauses an der Hudson Street, ohne Heizung. Ich saß auf einer Matratze und kratzte mich, ein unkoordinierter Körper mit Ohrenschmerzen, in Wäsche aus Plastikfasern. Die Geräusche im Kopf nur Brei. Alles war so kalt wie unter der Erde und die Eigentemperatur eine unbekannte Größße. Meine Knochen sackten durch die Haut unter den Teppich und schmiegten sich ans Linoleum, alle gleichmäßig weit vom Erdmittelpunkt entfernt. Eine Bekannte war stolz auf den Abdruck eines Bügeleisens, den ihr ein berühmter Künstler in die Haut des rechten Schulterblattes gesengt hatte. Sie zog sich das Hemd auf dem Rücken herunter und betrachtete das Brandmal in den Spiegelscherben, die wir in die Tastatur einer Telexmaschine geklemmt hatten. Kälte stieg durch meine Kleidung...
... Ich wand mich und aß ein Stück Opium. Die darauffolgende Übelkeit kannte ich noch von meinen Knochenbrüchen. Nach einer Stunde fuhren die Knochen zurück in den Körper und erwärmten sich in seiner Mitte. In den Ohren klärten sich die Geräusche. Das Aggregat des Kühlschranks trennte sich vom Lärm der Sattelschlepper, die von der Canal Street in die Eingangsspirale des Holland Tunnels abbogen. Das Gegengewicht des Fahrstuhls vom Motor eines Kühlwagens. Und die Frauenstimmen vom scheinbar ewigen Geräusch des West Side Highways, durch dessen Betonplatten damals noch kein Lastwagen gefallen war. Ich schwebte vierzig Zentimeter über dem Linoleum als Bestandteil einer Fläche, zu der außer mir und dem Teppich der Geräusche noch der reale Kelim gehörte, auf den ich zuvor gelegen hatte und unter den ich dann gerutscht war. Zwar war ich eine plattgewalzte Fläche, aber in ihrem Zentrum schien die Sonne auf unverkratzte Bronchien. Später, beim Aufzeichnen dieses Zustands, kritzelte ich ein Wellenmuster, das den Wassergehalt meines Körpers repräsentieren sollte, in ein Viereck und schrieb das Wort AIR hinein. Artist in Residence, endlich aus der Wäsche gefahren und kein Verrückter mehr. Ich atmete nur mehr durch die Haut. Lapidar melancholisch und traumhaft genau die Asche vergangener Möbel anstarrend." (Aus: Krieg der Augen, Kreuz der Sinne, 1991).