Bickels [Socialism]

Bickels [Socialism]

Film von Heinz Emigholz

D 2015-17, DCP, 92 Minuten, 5.1
Streetscapes – Kapitel II
Photographie und jenseits – Teil 25
Architektur als Autobiographie
Samuel Bickels (1909–1975)

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Credits

Regie, Buch: Heinz Emigholz
Off-Kommentar gesprochen von Galia Bar Or
Kamera, Schnitt: Heinz Emigholz, Till Beckmann
Originalton: Till Beckmann
Tongestaltung: Christian Obermaier
Mischung: Jochen Jezussek
Postproduktion: Till Beckmann
Produktionsmanagement São Paulo: Mila Zacharias
Produzenten: Heinz Emigholz, Galia Bar Or
Produziert von Heinz Emigholz Filmproduktion
Unterstützt von Ostrovsky Family Fund, Mishkan Museum of Art Ein Harod, Goethe Institut Tel Aviv, Ann und Ari Rosenblatt
Dank an Avraham Afori, Evelin Akerman, Roni Azati, Martin Bach, Oded Barsilay, Zipi Bension, Gabriel Rodrigues Borges, Eitan Carmi, Aaron Cutler, Chico Daviña, Ana Druwe, Avital Efrat, Rachel Etkin, Ueli Etter, Hannes Hatje, Nili Heller, Penny Hess-Yassour, Pedro Köberlle, Karine Legrand, Ofir Levi, Tatjana Lorenz, Mariana Lorenzi, Simone Malina, Shira Mor Yosef, Vivian Ostrovsky, Noam Rabinowitz, Luiz Rangel, Tomer Rechtman, Lucas Rodrigues, Katharina von Ruckteschell-Katte, Benjamin Seroussi, Zeev Shabtay, Mariana Shellard, Miriami Shneor, Frieder Schlaich, Lorena Vicini, Rachel Zeidel
und Anamaue, Casa do Povo, Consulado Geral de Israel, Goethe-Institut São Paulo und South America

www.pym.de
www.museumeinharod.org.il
www.filmgalerie451.de

Copyright 2017 by Heinz Emigholz Filmproduktion

22 Bauwerke des Kibbutz-Baumeisters Samuel Bickels gefilmt in Israel 2015. Als Prolog das Casa do Povo in São Paulo, als Appendix The Story of Vio Nova.

Die Dreharbeiten zum Film Bickels [Socialism] fanden vom 14. bis 28. Mai 2015 und am 2. Januar 2016 in Israel, und vom 30. Oktober bis 1. November 2016 in São Paulo statt.

Der Film zeigt folgende Bauwerke:

Prologue (São Paulo):
Casa do Povo (1953) – Jewish Community Center built by Ernst Mange,
Theater by Jorge Wilhelm

Feature Film (Bauten von Samuel Bickels in Israel):
Mishkan Museum of Art (1948), Ein Harod
Barn (1948), Ein Hashofet
Trumpldor House (1949), Tel Yoseph
Ghetto Fighter’s House Museum (1953), Lochamei Hagetaot
Sport House (1955), Beit Hashita  
Sport House (1955), Sarid  
Borchov House (1957), Mishmar Hanegev
Positioning of Residence Houses (1957), Revivim
Dining Hall (1958), Ein Harod
Bendori House (1959), Givat Hashlosha
Cultural House (1961), Mashabe Sade  
Dining Hall (1961), Sde Nachum   
Kolin House (1962), Neve Eitan
Members' Club (1965), Beit Oren   
Guest House Dining Hall (1965), Beit Oren  
Brand House (1965), Efal
Bnei Brit House (1966), Moledet  
The Sons House (1966), Shfayim
Beit Ziesling (1969), Ein Harod Meuhad
Miriam House Museum (1969), Palmachim
Dining Hall (1970), Efal  
Beit Golomb (1957), Golda Center (1976), Revivim

Appendix (Ein Harod)
The Story of Vio Nova – With paintings by Meir Axelrod

Standbilder aus Bickels [Socialism]:

Samuel Bickels

Samuel Bickels wurde 1909 in Lemberg im damaligen Galizien geboren. Von 1928 bis 1931 absolvierte er ein Studium der Architektur und Ingenieurswissenschaften an der Polytechnischen Universität Lwów. Im Anschluss daran lebte er im Rahmen eines sechsmonatigen Studienaufenthalts in Paris. 1933 heiratete er die junge Physikstudentin Clara Project. Gemeinsam emigrierten beide nach Palästina.

Samuel Bickels‘ Eltern, Brüder und viele andere seiner Angehörigen kamen im Holocaust ums Leben. Ab den späten 1930er Jahren war Bickels zunächst Mitglied des Kibbuz Tel Yosef, ab 1951 bis zu seinem Tod 1975 des Kibbuz Beit Hashitaim.

Ab den 1950er Jahren arbeitete er als Architekt mit seiner Frau Clara zusammen, die ihn bis zu ihrem Tod 1969 sowohl bei planerischen Arbeiten als auch beim Anfertigen technischer Zeichnungen unterstützte. Bickels selbst konzentrierte sich überwiegend auf die technisch und künstlerisch anspruchsvollen Aspekte der Planung seiner Projekte, beispielsweise die Akustik einer Konzerthalle oder die Raum- und Lichtgestaltung von Ausstellungsflächen in Museen.

Erst in den letzten Jahren finden seine zahlreichen, markanten architektonischen Arbeiten Anerkennung innerhalb der Architekturszene Israels. Zu seinen Lebzeiten war Bickels nicht an den Diskussionen zur Kibbuz-Architektur an der Technischen Universität Israels in Haifa beteiligt. Auch an einem Symposium zum Thema „The Planning of a Kibbutz Point“ nahm er nicht teil, das 1958 vom Department of Training and Further Studies der Technischen Universität veranstaltet wurde.

Der Architekt Abba Elhanani, der an der Technischen Universität unterrichtete und Herausgeber der Zeitschrift Tvai war, erwähnt Bickels in seinem 1998 erschienenen Buch The Struggle for the Independence of Israeli Architecture in the 20th Century mit keiner Silbe. Auch in die hier veröffentlichte Liste israelischer Architekten ist sein Name nicht mit aufgenommen.

Der Umstand, dass Samuel Bickels im israelischen Diskurs über Fragen der Architektur so lange ignoriert wurde, scheint vor allem mit dem Ausblenden der Verbindung von Architektur und gesellschaftlich-kulturellen Aspekten zu tun zu haben. Bickels hat sich sein Leben lang mit dieser Verbindung beschäftigt und alles dafür getan, um seine Vorstellung von diesem Zusammenspiel in seinen Entwürfen und Bauplänen für soziale, kulturelle und landwirtschaftliche Einrichtungen umzusetzen.

Galia Bar Or 

Soziale Architektur

Bickels [Socialism] beschäftigt sich mit den Sedimenten des 20. Jahrhunderts. Die von Bickels entworfenen Kultur- und Ausbildungseinrichtungen, seine Speisesäle verkörpern das Herz einer Idee, einer sozialen und kulturellen Wechselwirkung. Es scheint, dass sich in Bickels‘ Architektur der Wille materialisiert, Kultur zu erschaffen. Seine Gebäude sind in ein physisches, geografisches, von Menschen bevölkertes Umfeld eingebettet. Jedes von ihnen unterscheidet sich von den anderen, jedes ist ein Einzelstück, keines ein Prototyp. Einige von ihnen werden noch genutzt, andere sind verfallen, aber immer ist ihre Verbundenheit mit der jeweiligen Umgebung spürbar. (...) Bickels hat keine Architektur der großen Visionen – ob im utopischen oder dystopischen Sinne – hinterlassen. Und auch wenn seine Bauten nicht ohne Pathos sind, so stehen sie nicht für einen hegemonialen Standpunkt, sondern eher für die Perspektive einer peripheren, untergeordneten Kultur an den Rändern der Moderne. Vertreibung und Immigration haben diese Grundlagen sozialer Architektur nach Israel und Brasilien getragen.

Der Film beschäftigt sich mit einer Art von Architektur, die mit der Textur des Lebens interagiert, die sich organisch an den Verlauf der Zeit und die damit verbundenen Veränderungen anpasst und auf spezielle Art und Weise altert. Bickels [Socialism] zeichnet die Spuren der Zeit nach, zeigt die Gebäude in der heutigen Zeit, zeigt ihre Geschichte. Bickels [Socialism] versucht nicht zu rekonstruieren, was in der Vergangenheit gewesen sein könnte. Die Gebäude tragen die Schichten der Zeit in sich: Staub, Gewalt, Dinge, die geschehen sind und ihre Spuren hinterlassen haben (...). Wie verhalten wir uns zu den kulturellen und gesellschaftlichen Formen, die diese Gebäude repräsentieren? Wir haben diese Gebäude geerbt, ihre Geschichte, ihre Vergangenheit, die Sedimente des 20. Jahrhunderts, mit ihren Träumen, Schrecknissen, Errungenschaften und Misserfolgen. Der Film nimmt uns mit auf eine Reise, zeigt uns Bilder und Töne der Gegenwart und ermöglicht es uns auf diese Weise, die Vergangenheit zu betrachten – was immer auch eine Art ist, die Zukunft in den Blick zu nehmen

Galia Bar Or

Casa do Povo

Das Casa do Povo in Sao Paulo wurde von Überlebenden des Holocaust in São Paulo, Brasilien, als jüdisches Kulturzentrum konzipiert und von Ernst Mange 1953 erbaut. Der Theaterraum wurde von Jorge Wilhelm entworfen. Getragen von sozialistischen Ideen war das Casa do Povo während der brasilianischen Diktaturherrschaft ein Zentrum des Widerstands. Heute wird das Gebäude von einer Gruppe junger Kulturschaffender renoviert und zu einem neuen Kulturzentrum wiederaufgebaut. Ihre Ziele sind, die Erinnerung an Immigration und Widerstand aufrechtzuerhalten, Innovationen für die Stadt voranzutreiben und kulturelle Praktiken für die Zukunft zu entwickeln.

Die Geschichte von Vio Nova

Der Kibbuz Tel Yoseph war das Organisationszentrum der Arbeitsbataillone, einer weit verbreiteten Gemeinschaft von jüdischen Arbeitern in Palästina, die auf Zusammenarbeit und Gleichheit gegründet war.

In den späten 1920er Jahren verließen ungefähr einhundert Mitglieder die Arbeitsbataillone, um in die Sowjetunion zurückzugehen. Die erste Gruppe verließ Palästina 1927 heimlich mit einem Lastwagen und einem Traktor, und die letzte Gruppe folgte 1929. Palästina stand unter “kapitalistischer“, britischer Herrschaft. Die ökonomische Situation war harsch, und die Rückwanderer meinten, daß ihre dort zurückgebliebenen Kameraden keine guten Kommunisten waren.

Stalin, der den Zionismus unterdrückte, versprach ihnen einen Platz auf der Krim, und sie gingen dorthin, um eine bessere Welt aufzubauen. Weil Hebräisch in Rußland verboten war, nannten sie den neuen Kibbuz „Vio Nova“, das ist Esperanto für „Ein neuer Weg“. Sie kommunizierten weiterhin auf Hebräisch und führten ein Leben wie in Palästina, mit einer Gemeinschaftsküche, Kinderhäusern usw.  

Für einige Jahre war der Kibbuz erfolgreich. Stalin entsandte im Rahmen einer Propaganda-Aktion, die sich vorwiegend an die jüdische Bevölkerung richtete, Journalisten und Maler dorthin, um das Scheitern des Zionismus und den Erfolg der Sowjetunion zu proklamieren. Vier Maler haben Vio Nova 1930 und 1931 besucht. Die im Film gezeigten Bilder aus dem Ein Harod Museum wurden zu jener Zeit von Meir Axelrod gemalt und von seinem Enkel dem Museum übergeben, der in den 1990er Jahren nach Israel immigrierte. 

Vio Nova wurde zu unabhängig, und ein Wechsel in Stalins Politik besiegelte sein Schicksal. 1932 wurde die Gemeinschaft gezwungen, Stalins Informanten als Mitglieder zu akzeptieren. 1934 wurde der Kibbuz gezwungen, sich in eine Kolchose umzuwandeln – nicht mehr als Gemeinschaft zu wirtschaften, sondern jede Familie für sich. Die Kolchose wurde Drojba Nádorov getauft: „Brüderschaft der Nation".

In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre verließen viele ehemalige Mitglieder des Arbeitsbataillons die Kolchose nach Moskau und an andere Orte in Rußland. Schätzungen zufolge wurden dreißig bis fünfzig von ihnen verhaftet. Viele von ihnen hat man nie wiedergesehen. Als die Deutschen 1944 die Krim besetzten, verriet einer der Spitzel die letzten verbliebenen Mitglieder von Vio Nova, zwei Frauen und fünf Kinder. Sie wurden im alten Brunnen der „Brüderschaft der Nation" ertränkt.