2+2=22 [The Alphabet]

2+2=22 [The Alphabet]

Film von Heinz Emigholz

D 2013-17, DCP, 88 Minuten, 5.1
Streetscapes – Kapitel I
Photographie und jenseits – Teil 24

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Regie, Buch: Heinz Emigholz
Darsteller: KREIDLER – Thomas Klein, Alexander Paulick, Andreas Reihse und Detlef Weinrich
Off-Kommentar gesprochen von Natja Brunckhorst
Kamera, Schnitt: Heinz Emigholz, TillBeckmann
Originalton: Till Beckmann
Tongestaltung und Mischung: Jochen Jezussek
Postproduktion: Till Beckmann
Produktionsmanagement Tiflis: Zaza Rusadze
Produzenten: Heinz Emigholz, Andreas Reihse
Produziert von Heinz Emigholz Filmproduktion
Unterstützt von Filmgalerie 451, Rimini Berlin, Goethe Institut Tbilisi
Dank an Gogi und Ketuta Alexi-Meskhishvili, Natalia Beridze, Irakli und Thea Djordjadze, Dato Machavariani, Nini Palavandishvili, Zaza Rusadze, Frieder Schlaich, Doktor Till, Stephan Wackwitz, Eteri und Levan Wekua und KREIDLER

Aufnahmen der Stücke Nino, Alphabet, Modul, Ceramic, Tornado und Mento von KREIDLER für ihr Album ABC
Toningenieur: Gvaji
Chor: Nino Gulbatashvili, Salome Makaridze, Ucha Pataridze und Beka Sebiskveradze
Mischung: KREIDLER mit Guy Sternberg in den LowSwing Studios Berlin
Assistenz: Florian von Keyserlingk
Mastering: Rashad Becker bei Dubplates & Mastering
ABC veröffentlicht von Bureau-b als CD und LP
Gefördert von Michael Dimitrov, Stephan Wackwitz, Goethe Institut Tbilisi, Kulturamt Landeshauptstadt Düsseldorf und Initiative Musik

www.pym.de
www.ikreidler.de
www.filmgalerie451.de

Copyright 2017 by Heinz Emigholz Filmproduktion und KREIDLER

Gefilmt im Kartuli Pilmis Studia Tbilisi und in den Straßen von Tiflis, Georgien, im Oktober 2013 / Notizhefte Nr. 222 a–z von Heinz Emigholz vom 30. Juli 2012 bis 23. Dezember 2013

Standbilder aus 2+2=22 [The Alphabet]

Statement zur Produktion des Films von Pym Films

Der Film dokumentiert die Genese der Aufnahmen und der Produktion einiger Musikstücke der Gruppe KREIDLER, die auf ihrem Album ABC im Mai 2014 veröffentlicht wurden. Gedreht wurden lange, beobachtende filmische Einstellungen. Die Aufnahmen haben vom 8. bis 12.  Oktober 2013 im Tonstudio des Georgischen Filmproduktions-Areals Kartuli Pilmi in Tiflis, Georgien, stattgefunden. Genutzt wurde ein großer, mit variablen Wänden ausgestatteter, holzgetäfelter Saal. Der Raum ist ehemals als ein Aufnahmestudio für ein Filmorchester konzipiert worden und diente auch als interner Vorführraum zur Filmabnahme durch die Zensurbehörde.

Aus den dokumentarischen Aufnahmen vom Zustandekommens der Musikstücke wurden etwa zwanzig Sequenzen ausgewählt, die das Rückgrat des Filmes bilden. Dazu gesellen sich „Inserts“, die vor und zwischen den musikalischen Sequenzen auftauchen. Diese Inserts bestehen aus zwei Elementen: Ein Grundelement sind dokumentarische Aufnahmen architektonischer Situationen in der Stadt Tiflis. Das zweite Element bilden Notizhefte, die filmtechnisch animiert durchgeblättert werden. Die Hefte sind von Heinz Emigholz im Laufe eines Jahres geschrieben und bebildert worden.

Grundgerüst des Films ist eine durchgehende Parallelmontage zwischen den Musikaufnahmen und den Stadt- und Notizheft-Inserts. Der Film ist insofern eine Replik auf Godards One Plus One, als der Hauptteil des Films wie dort aus der Dokumentation der Arbeit einer zeitgenössischen Musikgruppe besteht. Anstelle des plakativen, politpop-ideologischen Macramés in One Plus One, tritt in 2+2=22 [The Alphabet] ein objektivierendes Stadtportrait. „Propaganda“ ergibt sich dabei im Gegensatz zum Konstrukt Godards nicht aus gespielten Sketchen und Sarkasmen, sondern relativ zurückgenommen aus der Deklamation der städtischen Oberflächen gepaart mit Text-Bild-Collagen.

Der Film ist kein Werbefilm oder Musikclip für eine Pop-Gruppe, sondern erstellt eine neue Relation zwischen Musik und Dokumentation. Er kontrastiert die reale Arbeit an Musikstücken mit dokumentarischen Aufnahmen vom Ort ihrer Entstehung, einer ehemaligen Sowjet-Republik am südlichen Rand des Kaukasus, und poetischen Notaten eines eher westlich geprägten Kommentars. Die Beobachtung eines kollektiven, schöpferischen Prozesses und seiner Pausen steht im Mittelpunkt des Films. Rudimente von Wirklichkeit und ihrer Geräuschszenarien unterbrechen diese Studien, und poetische Deklamationen bilden dazu ideologische Gegenpole. Daß diese sich nicht mehr als allgemein politisch verständliche Sprache gerieren können, ist nur eine der Wahrheiten, die sich seit Erscheinen von One Plus One ergeben hat. Daß die Arbeit der Rolling Stones darin in ihrem ruhigen Fortgang mehr und mehr an Würde gewonnen hat, und die Inszenierungen Godards dagegen als Zeitdokumente schlecht gealtert sind, könnte man als eine bemerkenswert gegenläufige Korrelationsbewegung in der Zeit ansehen. Das könnte auch diesem Film geschehen.

Die Stimme aus dem Off

Es gibt Straßen, Wege, Pfade, Gassen, Chausseen und Autobahnen. Highways, Promenaden, Alleen, Passagen und Boulevards. Nebenstraßen, Hauptstraßen, Ringstraßen, Prachtstraßen, Schnellstraßen, Dorfstraßen, Spielstraßen, Querstraßen, Landstraßen, Uferstraßen, Asphaltstraßen, Parallelstraßen, Einbahnstraßen und Durchgangsstraßen. Tangenten, Kreuzungen, Serpentinen, Schotterwege, Kreisverkehre, Gehwege, Waldwege, Sandwege, Labyrinthe, Trampelpfade, Plätze, ganze Netze und ganze Fluchten.

Und es gibt Lebenswege, Sackgassen, Durststrecken, Leidens-wege, Kreuzwege, Umwege, Fluchtwege, Opfergänge, Pilgerstrecken, Straßen in den Abgrund, Wege der Liebe und Pfade der Sehnsucht. Reisen von A nach B. Im Falle der faktischen Straßen finden diese Reisen in einem Netz statt, das unendlich viele Verbindungen ermöglicht. Im Falle der Metaphorik wird ein Verlauf auf ein nicht zu vermeidendes oder angestrebtes Ende hin projiziert.

Die Straßen bieten sich als Set und Theater an, auf dem alle Lebensmöglichkeiten aufgeführt werden, ihre Netze sind das Modell für die Bewußtseinsströme in der Literatur. Die Hingabe an den Gedankenfluß, die Freude an der Strecke der Schrift, das automatische Schreiben der Surrealisten, der Beat Poets, das Schreiben on the road, die unendlichen Möglichkeiten der Schrift, die sich mit den unendlichen Kombinationen von Landschaftsmodulen und städtischen Partikeln paaren: Dieser Wischeffekt, das Überlagern und Wiederauftauchen von Gedächtnisteilen, das Auslöschen und Evozieren von Erinnerungen, die Erfrischung der Augen, ist auch eine Lust.

Hauptstraßen und Hauptsätze, Nebensätze und Nebenstraßen. Absätze und Straßenviertel, Kapitel und Quartiere. Die geometrische Figur der Straßen und die Syntax der Sätze. Verkehrszeichen und Satzzeichen. Das städtische Straßennetz als Erzählung von Quartier zu Quartier, von Kapitel zu Kapitel. Der Straßenhändler unterbricht meine Gedanken, oder er bietet im richtigen Moment die richtige Ware an. Er profitiert von diesem Moment der Entsprechung, davon, daß jemand findet, was er nicht gesucht hat. Einen Punkt erreichen, einen Absatz machen, eine Wende vollziehen: „Und dann... und dann... und dann...“.

Eine Straße betreten, begehen, herunterlaufen, schlendern und wanken. Die Schriften der Straße, das Leben und Schreiben auf der Straße. Die Welt ist eine im Umlaufverfahren beschriftete. Der ungestaltete Zusammenprall architektonischer Absichten an den Straßenrändern, die Typographie der Straße, ihre Schilderwälder. Auf den Straßen werden wir zu Statisten, die das Leben spielen. Wir werden zum passiven Publikum einer Inszenierung, des Handels und der Handlungen. Wenn die Straße eine Bühne ist, dann führt sie das Drama der Gleichzeitigkeit von Ereignissen auf – ihr Auf- und wieder Abtauchen. Die Decke, die einem hier auf den Kopf fällt, ist dann gleich der Himmel.

In die Straßen hineingezogen werden wie in einen Strudel, von Zeichen zu Zeichen. Die Geschichte geht weiter, von Schild zu Schild. Städte, Vorstädte, Landschaften, Gebirge und Wüsten. Und dazu die Sätze der Menschen zu ihren Beziehungen, ihren Reisen, ihren Krisen und ihrer Dauer: Die Endlosigkeit der Straßen kollidiert unversöhnlich mit der Endlichkeit der Menschen.

Ganze Imperien bezogen ihre Macht aus den Verkehrsnetzen, die sie aufzogen: der römische Straßenbau, die militärische Autobahnplanung, der chinesische Handel mit Verkehrsnetzen. Die internationale Gleichschaltung der Straßen, in ihrer Anonymität und in ihren Besonderheiten.

Straßen haben eine spiegelsymmetrische Anlage. Auf ihrer Längsachse lassen die beiden Straßenfronten Anblicke von Gebäuden und Einblicke in Bebauungen oder Ausblicke auf die Linien und Horizonte der sie umgebenden Landschaften zu. Auf ihrer Querachse bieten sich Ausblicke und Rückblicke auf den Verlauf der Straße in frontaler Sicht an. Punkte in der Ferne entfalten sich zu komplexen, architektonischen Gebilden und Landschaften. Sie ziehen seitlich an uns vorüber, um sich dann wieder zu einem Punkt in einer zurückbleibenden Ferne zusammenzuziehen.

Die Straße ist auch ein Nicht-Thema. Sie erscheint als Allerweltsort und in ihrer Allgegenwart als ein bis zur Belanglosigkeit strapaziertes und überrepräsentiertes Genre. Straßen gelten als totgefilmt, die Standpunkte, die man zu ihr einnehmen kann, als durchdekliniert. Ihre Wege werden, wie Medien allgemein, in ihren Eigenarten mißachtet, und die damit zu erreichenden Ziele idealisiert.

Häuser, die an Straßen stehen, haben es schwer. Beliebt sind Grundstücke an Sackgassen. Das Haus repräsentiert die „gebundene“ Geschichte, eine möglichst eingebundene. Und die Straße die „freie“ Geschichte, ein Experiment, und damit gegebenenfalls auch nichts.

Straßen sind Container für Gefühle, an denen man später wieder vorbeikommt. Anders als Häuser repräsentieren sie die variablen Teile von Geschichte. Als Medien sind sie extrem vergänglich, sie müssen ständig ausgebessert werden.

Schreiben und Fahren sind positiv gesehen Praxen der Überschreibung, und negativ gesehen Auslöschungen. Aber aus der anonymen Masse des aktiv nicht abrufbaren Erinnerungsmaterials stechen plötzlich Orte und Straßen hervor. Wie aus dem Nichts schiebt sich die Erinnerung an eine Straßenkreuzung in das Zentrum des Bewußtsein, und man kann nicht sagen, warum.

Jeder Gedanke entspringt einer Kreuzung von Ort und Zeit. Ein bestimmter Gedanke kann nur einer ganz bestimmten Landschaft entsprungen sein, an einem genau zu beschreibenden Ort oder in der Erinnerung an ihn. Würde man den Glauben an diese Ortsgebundenheit der Gedanken verloren haben, machte kein durchgestaltetes Bild der Realität mehr Sinn. Eine Bildsprache, die sich nicht den vorgefundenen Orten der Realität verpflichtet fühlt, ist Unsinn.

Heinz Emigholz