Schenec-Tady III

Schenec-Tady III Schenec-Tady III

Die aufwendigen Kopierarbeiten sind 1975/76 in Hamburg ausgeführt worden. Die SCHENEC-TADY-Filme sind Great Birnam Wood gewidmet.

Abb.: The last of ›Birnam Wood‹

 

1972/75
16 mm, s/w, stumm
20 Minuten (18 B/Sek.)

Regie, Konzept, Komposition, Kamera, Schnitt, Produktion: Heinz Emigholz

Drehort:
Hasenkopf, Taunus
Drehzeit: März / April 1973
Filmverleih aller Filme: Freunde der Deutschen Kinemathek
Videovertrieb aller Filme: Filmgalerie 451

Uraufführung: Internationales Experimental- und Avantgardefilm Seminar, Kino Arsenal, Berlin, 4. April 1976
6. Internationales Forum des Jungen Films, Berlin, Juni 1976

Schenec-Tady III Heinz Emigholz

A Scene Near Schenec-Tady

Von Anfang bis Mitte der 70er Jahre habe ich eine Serie von Filmen produziert, die ein kompliziertes Wechselspiel zwischen abstrakten zeitlichen Kompositionen - respektive filmischen Bewegungen - und ausgewählten städtischen und natürlichen Landschaften beinhalten.

Die Filme - ARROWPLANE, TIDE und drei Folgen von SCHENEC-TADY - sind zwischen 18 und 33 Minuten lang und bestehen aus Tausenden von Fotografien, die nach einem vorher festgelegten Plan im Einzelbildverfahren mit einer Bolex-Kamera auf 16 mm-Film aufgenommen wurden. Der Standpunkt, von dem aus jeweils fotografiert wurde, war genau gewählt. Kennzeichnungen am Stativ und auf der Zoomlinse der Kamera ermöglichten die Fixierung aller von diesem Standpunkt aus möglichen Bilder in einem Koordinatensystem. In dieses System hinein wurden vor der Aufnahme der Filme Scores geschrieben - Kompositionen für einzeln zu fotografierende Bilder, die in der Abfolge ihrer späteren Projektion ein bestimmtes filmisches Ereignis erzeugten. Einem Brief an Birgit Hein vom 31. Januar 1977, den ich in Vorbereitung einer Installation meiner Filme auf der documenta 6 geschrieben habe, entnehme ich folgende Beschreibung des Scores:

Schenec-Tady III„Aus den 5760 möglichen Einstellungen, die das Schema generiert, kamen für den Film nur ein Bruchteil zur Anwendung; und zwar alle diejenigen, die auf einer bestimmten ellipsenförmigen Bahn um das Stativzentrum lagen ... Linear fortgesetzt ergibt das eine Figur, in der die Bildbahn nach sechs 360-Grad-Umläufen zu ihrem eigenen Ausgangspunkt zurückkehrt. Auf diesen sechs linearen horizontalen Umläufen finden gleichzeitig fünf vollständige Zoomabläufe statt ... Die Entscheidung für diese Bildbahn hat noch keine unmittelbare Auswirkung auf die später sich im Film manifestierenden Bewegungsformationen. Für die Filmkomposition ist nur die aktuelle Folge der einzelnen Bilder entscheidend. Sie liegen zwar alle auf der Bildbahn, folgen ihr aber nicht linear. Die aktuelle Bildfolge in SCHENEC-TADY III: Die Partitur baut neben dem Einzelbild als kleinster Einheit auf distinkte Einheiten von sechs Bildern auf. Dieser Sechs-Bilder-Rhythmus bleibt den ganzen Film über unverändert beibehalten: Auf je sechs zusammenhängende positive Einzelbilder folgen sechs zusammenhängende negative Bilder ...“.

Ein Komponieren analog zum Notieren von Musik war also durch die Zerlegung des filmischen Aufnahmeprozesses in unterschiedliche und kontrolliert einsetzbare Kompositionsparameter möglich geworden. Lineare Zeit- und Bewegungsabläufe, wie sie zum Beispiel in jedem Kameraschwenk vorkommen, wurden so analysiert, daß ein komplexes Gebilde aus Filmzeit und Bewegung künstlich erzeugt werden konnte. Die Partituren der Filme existieren auf Papier, das heißt, sie könnten zu jeder Zeit in unterschiedenen Landschaften identisch verfilmt werden. Reale Landschaften werden dabei als Medium, quasi als Matrix verwendet. In ARROWPLANE zum Beispiel kommt es zu einer Reaktion dreier sehr unterschiedlicher Landschaften auf die vorher festgeschriebene Komposition.

Ich habe die Partitur für das Filmprojekt, das später den Titel SCHENEC-TADY bekam, nach einer langen Experimentierphase im Herbst 1972 geschrieben. Drei Filme sind aus diesem Score hervorgegangen. Zwei davon - SCHENEC-TADY I und III - wurden vom 28. März bis 2. April 1973 auf dem Hasenkopf im Taunus, auf einer Waldlichtung, die für ein zukünftiges Wasserwerk geschlagen worden war, in schwarz-weiß aufgenommen. Den dritten Film, SCHENEC-TADY II, habe ich in Farbe in einer Dünenlandschaft nahe Oksbœl in Dänemark gefilmt, wahrscheinlich im Herbst 1973. Zwei weitere Filme, ARROWPLANE und TIDE, deren Scores als Unterthemen der SCHENEC-TADY-Serie den Horizontalschwenk direkt abhandeln, sind im ersten Halbjahr 1974 in Hamburg und in Dänemark entstanden.

Zum Titel SCHENEC-TADY kam die Serie im Februar 1973. Ich hatte in Hamburg auf der Straße einen Stapel amerikanischer Postkarten aus den 30er Jahren gefunden. Diese von der Curt Teich & Co Inc. in Chicago hergestellten Karten reproduzieren grellfarbene Vollretuschen von Landschaften in den USA. Einige davon trugen die Aufschrift A Scene Near Schenectady, N.Y. Der stottrige Klang des Namens - wie sich erst viel später herausstellte ein indianisches Wort für Schöne Aussicht - überzeugte mich ebenso wie die absolute Künstlichkeit der Landschaftsdarstellungen. Ich hatte eine Ausbildung zum Fotoretuscheur hinter mir und das schreiend Nicht-Authentische der Karten war mir im Sinne einer konstruktiven Aufklärung sympathisch.

In den Notizbüchern aus der Drehzeit des SCHENEC-TADY-Projektes tauchen außer Buster Keaton, Jack Smith und Josef von Sternberg keine Namen von Filmemachern auf. Als bildende Künstler nur Francis Picabia, Giovanni Fattori und El Lissitzky. Dafür wurden viele Werke von Schriftstellern zitiert, so als sei in der Literatur ein größerer Fundus an Modellen für die Lösung der auch im Film virulenten logischen Probleme bei der Darstellung simultaner Ereignisse aufzufinden. Flaubert, Philip K. Dick, Rimbaud, Edgar Poe - „I have graven it within the hills, and my vengeance upon the dust within the rock“ - und immer wieder Proust, der bis heute genaueste Filmtheoretiker - „Es gibt optische Täuschungen in der Zeit ebensogut wie im Raum“. Was mich damals aber am meisten bewegte, waren ein paar Verse aus Shakespeares "Macbeth", Act IV, Scene I, Apparition of Child Crowned: "Macbeth shall never vanquish'd be until Great Birnam Wood to high Dunsianhill shall come against him." Eine der raffibniertesten Prophezeiungen, die jemals gegenüber einem in Megalomanie versunkenen menschlichen Geist ausgesprochen und erfüllt worden ist. Daher trägt die Serie die Widmung "Für Great Birnam Wood".

Die Montage der Filme fand in der Kamera statt. Jedes einzelne ihrer Bilder repräsentiert einen Blickwinkel zu einem bestimmten Zeitpunkt. Zwischen den einzelnen Bildern verschwindet dabei eine wie auch immer große Strecke von Realzeit. Gleichzeitig repräsentieren die einzelnen Aufnahmen Punkte auf einer Bewegungslinie, die sich in der Projektion wieder zu einer oder mehrerer gleichzeitig stattfindender, filmischer Bewegungen zusammensetzen. Geschwindigkeit und Rhythmus entstehen also allein durch die Abfolge einzelner Bilder und nicht durch die zeitliche Länge von Kameraeinstellungen. Die Landschaften wurden bis ins Detail hinein von einem Punkt aus fotografiert. Nicht mitabgebildet oder repräsentiert aber wurde in diesen Filmen die träge Realzeit des menschlichen Blicks. An seine Stelle trat eine Abfolge von Bildern als Produkt einer Maschine, die die einzelnen Bilder isolierte, speicherte und in der Projektion im Kontext eines künstlich erzeugten Bewegungsablaufes neu zusammensetzte.

Das Verfahren kennzeichnete und löste gleichzeitig mehrere Probleme, die sich aus der möglichen Repräsentation von Zeit in den technischen Bildmedien ergeben. Genannt sei hier nur das der Simultanität verschiedener Zeit- und Bewegungssysteme im Filmbild. Um die sich daraus ergebenden Paradoxien und Probleme genauer zu bezeichnen, müssen wir definieren, auf welchen Ebenen des Films - seiner Produktion und Konsumtion - Zeit als Stoff, also als bearbeitbare Materie, überhaupt auftritt.

Man unterscheidet bei der Produktion von Filmen zwischen Live Action und Animation. Für die einzelne Einstellung bezeichnet Live Action die Aufnahme und Dokumentation eines realzeitlichen Ablaufes unter Einsatz einer Technik, die die zeitliche Wiedergabe dieses Ereignisses im Verhältnis 1:1 ermöglicht. Werden zum Beispiel 24 Einzelbilder in der Sekunde aufgenommen, die eine reale, gespielte oder dokumentierte Bewegung spiegeln sollen, wird das Gehirn des Zuschauers diese 24, in einer Sekunde projizierten Bilder wieder zum kontinuierlichen Bild des ursprünglichen Bewegungsablaufes zusammensetzen. Spielfilme und Dokumentarfilme montieren Cluster solcher Aufnahmen zu narrativen Konstrukten. Bei dieser 1:1-Relation von Aufnahme und Wiedergabe, die bei den meisten Filmen zur Anwendung kommt, handelt es sich allerdings um einen logischen Spezialfall, denn Aufnahme- und Wiedergabegeschwindigkeiten sind technisch frei bestimmbare Parameter. Alle möglichen Verfahren der Animation, also der freien Gestaltung einer künstlichen Relation zwischen Aufnahme- und Wiedergabezeit, sind denkbar und in Maschinen produzierbar. Zeitliche Abläufe können gedehnt, gestreckt, inversiert und ineinander versetzt werden. Die Linearität oder Kontinuität eines realen Ortes, die schon in jedem Spielfilm durch Montage aufgebrochen wird, kann bis hin zum einzelnen Bild auf dem Filmstreifen - am Computer bis herunter zum letzten Bildpixel - aufgespalten werden. Der Künstlichkeit sind logisch keine Grenzen gesetzt. Als einzige Relation zur realzeitlichen Welt bleibt die Live Action des Zuschauers gegeben, der seine Wahrnehmung und seine Gedankenwelt auf das in seine Lebenszeit hineinprojizierte Produkt der Animation bezieht. Aber auch diese Ebene ist durch interaktive Prozesse weiter aufspaltbar.

Die filmische Darstellung schafft also ein System von Zeiten verschiedener Ordnungen, die widersprüchlich, aber simultan ablaufen: Realzeit von Ereignissen versus Kunstzeit gestalteter Bildabläufe versus Lebenszeit des Betrachters. Das Medium Film lebt von diesen Paradoxien eines linear präsentierten Bildablaufs, in dem „Zeit“ stofflich verhackstückt non-linear aufbereitet wird. Es bildet damit ein starkes Analogon zum Denken, das auch linear in der Zeit, in seinen Bewegungen aber ebenso non-linear stattfindet. Die Gleichung Bewegung gleich Zeit leuchtet nur als statistischer Mittelwert einer geruhsamen Betrachtung ein. Bildketten, die sich wie die SCHENEC-TADY-Filme nicht diesem Idealfall verpflichtet fühlen, korrespondieren zum Denken auf der physischen Ebene komplexer Assoziationsräume, in denen Linearzeit kollabiert. Mein Wunsch, Simultanität - die Gleichzeitigkeit verschiedener Bewegungen und Zeitsysteme bis hin zur Inversion - im Medium Film darzustellen, hatte auch das Motiv, den Betrachter auf der physischen und nicht nur auf der repräsentativen Ebene des Denkens zu animieren. Für den abgefilmten Gegenstand - die Landschaft - hat das die Konsequenz, dass sie in ihrer Natürlichkeit in ein künstliches System überführt wird. Als imaginäre Architektur in der Zeit bildet der Film so die Schnittstelle zwischen innerer und äußerer Landschaft: Er repräsentiert Zeit und er ist Zeit. Er behandelt Landschaft als Objekt und ist gleichzeitig ihr Objekt. Er konkretisiert dabei den bestimmten Ort zu einer gewesenen Zeit in nie dagewesener Weise. Er macht Vergangenheit und Zukunft punktuell zugänglich in einer gegenwärtigen Projektion. Und gleichzeitig bildet er ein Korrelat zu einem komplexen Denken, das sich in den linearen Breschen, die der Spielfilm schlägt, nur selten wiederfindet. Dessen Unzulänglichkeiten waren starke Motive für die Entwicklung des SCHENEC-TADY-Scores. Auf den Seiten 15 bis 17 meines Buches KRIEG DER AUGEN, KREUZ DER SINNE ist das hinlänglich geschildert worden.

Als Analyse filmischer Bewegungsformationen ist die SCHENEC-TADY-Serie enzyklopädisch angelegt. Alle Einzelthemen - Schwenk, Simultanität, Geschwindigkeit, Überlagerungen, Inversion von Lichtwerten, Richtungen und zeitlichen Abläufen - wurden darin isoliert und durch kompositorische Setzungen gelöst. Aber jedes enzyklopädische Verfahren ist in seinem Kern - dem Beharren, daß menschliche Erkenntnis unter den Bedingungen der Isolation sinnvoll existieren kann - auch ein naives Unterfangen. Musik kann ohne Zweifel unter dieser Voraussetzung produziert werden. Und wie man Musik nur hören, aber nicht nacherzählen kann, so lassen sich diese Filme nur ansehen. Eine wiederholbare Story, die neben dieser Wahrnehmung selbst existieren könnte, ist in ihnen nicht enthalten. Aber auch die Annahme einer solchen Wiederholbarkeit galt es anzuzweifeln, rücken doch die Aufzeichnungstechniken selbst in ihrem Verhältnis zum Aufgezeichneten die Welt in einer Weise zurecht, die schon den größten Teil jeder Story oder auch History ausmacht.

Die SCHENEC-TADY-Serie ist aus der Einsicht entstanden, daß zuerst die Grundlage der Zeitrepräsentation durch die Analyse filmischer Bewegungen zu klären ist, bevor man sich den Fragen der Bedeutung einer speziellen filmischen Repräsentation widmen kann. Mit SCHENEC-TADY III war 1975 die in diesem Rahmen mögliche große Oper vollendet und für mich das Kapitel Animation für lange Zeit abgeschlossen. Was danach kam, war Live Action. Heute interessiert mich filmische Repräsentation und Narration mehr als je zuvor. Denkbar aber ist auch diese Beschäftigung nur vor dem Hintergrund, daß wir in unseren filmischen Verfahren Zeit als Stoff isolieren und neu konstruieren können. Dabei ist es unerheblich, durch welche Abbilder Zeit repräsentiert wird. Sie muss nur erst als Materie selbst erkannt sein, um gestaltet werden zu können.

(1998)


Kritiken

"His 'raw material' is 360 degree pans around the settings, but they are edited in such a way that the film constantly subverts conventional perception; cross rhythms, superimpositions, speed fluctations and rapid alternations of direction spark off a remarkable array of illusions, after-images and uncertanties. It confirms Emigholz as the most painterly of avant-garde film-makers."
Tony Rayns, TIME OUT, London, November 1974

„Diese Filme erforschen, über kommunikative Strukturen hinaus, durch Wahrnehmungen und Bewegungen, die Prozesse entstehender Bedeutungen. Sie fangen, ohne abzubilden, Vorstellungen von End- und Zeitlosigkeit in rigorose Kompositionen ein. Dabei entfaltet sich etwas wie eine Logik der Materie ... Es sind keine Filme zum Betrachten. Man hat nicht den Eindruck, nach den meist zwanzig- bis dreißigminütigen Filmen das Gefilmte besser zu kennen, wohl aber ein entschiedeneres Bewußtsein vom Eigenleben von Landschaften und Dingen, von der Beschränktheit dessen, was wir mit unserem Blick aufnehmen, und der Unzulässigkeit unserer immer anthropomorphen Wahrnehmungsweise. Man beginnt zu überlegen, wie ein technisches Medium mit soviel Möglichkeiten, die alten Wahrnehmungsweisen der anderen Künste zu verändern, so total von ihnen aufgesogen werden konnte.“
Frieda Grafe, SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 2. Mai 1980


Ueli Etter

Schenec-Tady

SCHENEC-TADY I ist 1972/73 entstanden. 1973 war ich zehn Jahre alt. Ich hatte einen Lieblingsplatz im Wald, eine Lichtung abseits der Wege. Dort zog ich mich bis auf die Schuhe aus und rannte nackt durchs Unterholz. Ich streichelte das Gras und redete mit Blättern und Blumen. Einmal umarmte ich eine Buche. Dabei preßte ich meinen Körper an ihren Stamm, und mit einem Ohr an der Rinde vernahm ich das Ächzen der Äste. Weiter nichts. Als ich den Baum losließ, klebte schwärzlicher Staub an meiner Haut und verursachte einen unerträglichen Juckreiz.
„Schenectady“ bedeutet in der Sprache eines nordamerikanischen Indianerstamms „Schöne Aussicht“. Der erste Film der so benannten Trilogie setzt sich aus 37115 Einzelbildern zusammen, aufgenommen am Hasenkopf im Taunus. Man sieht das Panorama einer großen Waldlichtung mit einem Weg, gefällten Baumstämmen und einem Hochsitz. Im Rhythmus eines nervösen Augenzwinkerns blitzen die schwarz-weissen Bilder auf und zerstückeln die Bewegung der auf ihrer eigenen Achse rotierenden Kamera. Sequenzen der gleichen Bilder im Negativ antworten darauf in gegenläufiger Bewegung und erzeugen den Eindruck einer komplexen, wogenden Rhythmik, einer visualisierten, doch unhörbaren Oper.
Es ist nicht allein die Waldlichtung, die mich beim Gedanken an diesen Film immer auch an meinen theatralischen Versuch erinnert, mit der Natur ins Gespräch zu kommen und an die bittere Enttäuschung und Trauer die daraus folgten; das Jucken, die Wut und die helle Empörung, in der ich zuletzt das Gras niedertrampelte, die Blumen köpfte und die Bäume verfluchte.
SCHENEC-TADY II wurde in einem Dünengebiet aufgenommen und ähnelt in seiner Montage dem Vorgängerfilm, mit dem Unterschied, daß SCHENEC-TADY II bewußter, wenn auch weniger entlang festgelegter Regeln, komponiert erscheint. Ein weiterer Unterschied ist die Farbe. Sie etabliert eine neue Dimension von „Realität” die das Fehlen einer Tonspur umso deutlicher macht.
Mehr als zwanzig Jahre nach meinen einsamen Eskapaden in der freien Natur finde ich mich eines Tages an einem sonnigen Meeresstrand wieder. Der Himmel ist blau, im Sand und in den Wellen tummeln sich die Menschen und jauchzen vor Freude und Übermut. Ich habe lange in der Brandung herumgetollt und bin ihr eben erst entstiegen. In mein linkes Ohr ist Wasser gelaufen. Indem ich den Kopf schiefhalte und ihn gleichzeitig ruckartig auf und ab bewege, versuche ich, das Wasser herauszulocken. Es hilft nichts, also suche ich mein Badetuch und verirre mich eine Weile zwischen den nackten Leibern. Dann laufe ich über den glühenden Sand zu einer der freistehenden Duschen, die in regelmäßigen Abständen hinter den Sonnenschirmen aufgestellt sind. Der Wasserstrahl ist kühl und scharf. Ich lasse ihn auf meinen Kopf prasseln, bis das Wasser nicht mehr nach Salz schmeckt. Nach kurzem Frottieren widme ich mich wieder dem nassen Element im Innern meines Ohrs. Dazu spreize ich den kleinen linken Finger ab, greife damit ins feuchte Handtuch und stecke beides in mein linkes Ohr. Für besseren Gegendruck verfahre ich auf der rechten Seite genauso. Es gelingt mir, die Fingerkuppen mitsamt dem dünnen Frotteestoff soweit in die Ohrgänge zu pressen, daß auf einmal, außer einem leisen Rauschen in meinem eigenen Kopf, nichts mehr zu vernehmen ist.
Man nennt das “Ohrenzuhalten”, der Effekt ist bekannt. Trotzdem stehe ich hier, vor dem tosenden Meer und tausend schreienden Menschen, in absoluter Stille und bin gebannt vom Anblick des Schweigens das zwischen meinesgleichen und der Natur herrscht.


Ronald Balczuweit

Eine Landschaft in Bewegung

Die frühen Filme von Heinz Emigholz sind vorwiegend auf 16mm-Material gedrehte Kompositionen, die vor allem der filmischen Bewegung nachspüren. Bewegung muss dabei in einem sehr umfassenden Sinne verstanden werden, handelt es sich doch in den seltensten Fällen um die analoge Aufzeichnung einer in der Realität vorhandenen Bewegung. Bewegung ist in den Filmen nicht gegeben, sondern wird zumeist von ihnen erzeugt. So werden in den Filmen SCHENEC-TADY I-III nur unbewegte Einstellungen nach einem zuvor erarbeiteten System aufgenommen und dann derart aneinandergefügt, daß ihnen Bewegungen zu entspringen scheinen. Diese äußerst analytisch erscheinende Vorgehensweise hat dennoch nichts von einer theoretischen Reflexion, einer Entlarvung der kinematographisch erzeugten Illusion der Kontinuität von Bewegung. Im Gegenteil, Filme wie SCHENEC-TADY I-III erzeugen eine Illusion, derer sich der Betrachter ob der atemlosen Geschwindigkeit der Projektion trotz seines Wissens, daß eine Landschaft sich nicht bewegen kann, kaum zu erwehren im Stande ist.
Der auf Schwarz-Weiß-Material realisierte Film SCHENEC-TADY I beginnt mit einer Aufblende. Das Bild ist zunächst schwarz. Dann zeichnen sich erste Konturen einer Landschaft ab. Die Helligkeit schwillt an, bis der Vordergrund droht, die Zeichnung zu verlieren, zieht sich wieder zurück bis beinahe wieder völlige Schwärze vorherrscht, um schließlich, nach einem kurzen Pulsieren, in eine weiße Fläche überzugehen. In unregelmäßigen Zeitabständen bricht aus dieser Fläche wieder das Bild der Landschaft hervor, mal mehr, mal weniger von Helligkeit aufgelöst oder vom Dunkel verborgen. Doch handelt es sich hierbei um das Auftauchen und Verschwinden eines Bildes in dem Sinne, daß es zunächst kein Bild gäbe (die schwarze, die weiße Fläche) und anschließend ein Bild? Wo wäre dann der Übergang anzusetzen, an dem von einem Bild zu sprechen wäre?
Was die langsame Aufblende zu Beginn hervorkehrt, ist die Kontinuität des Sichtbaren durch seine im Wandel begriffenen Zustände hindurch. Jeder Referenzpunkt, auf den sich eine Unterscheidung zwischen Bild und Nicht-Bild beziehen könnte, wird ausgetrieben. Die Filmkamera weiß nichts von der „richtigen Belichtung”, sie registriert automatisch ein Licht-Bild, ohne sich darum zu kümmern, ob darauf noch etwas anderes als Helles oder Dunkles zu erkennen ist. Das filmische Bild ist in diesem Sinne keine feste Größe, sondern eine wandelbare Form. Auch besitzt es keinen Grund, auf den die Dinge aufgetragen würden, denn es erscheint genau genommen nicht auf, sondern anstelle der Leinwand. Das filmische Bild hat keinen anderen Grund als den seines Erscheinens. „Ce n’est pas une image juste, c’est juste une image.“ Nicht ein – im technischen, ästhetischen, moralischen oder politischen Sinn - richtiges Bild, sondern einfach nur ein Bild. Auf dieser Formel Jean-Luc Godards gründet eine „Pädagogik der Wahrnehmung” (Serge Daney), die ihre eigenen Voraussetzungen mitdenken will.
Der Film, und das gilt nicht nur für die frühen Werke, wird von Emigholz nicht von seiner Fähigkeit her begriffen, wiedererkennbare Einzelbilder zu produzieren, sondern von seinem Vermögen, ein Bild in stetigem Wandel zu erzeugen. Von seinem Vermögen, aus dem Grundstoff, den das fotografische Korn liefert, eine Kontinuität des Sichtbaren zu beschreiben, in der das wiedererkennbare Einzelbild nur als ein Spezialfall unter beinahe unendlich vielen Möglichkeiten der Kombination von Formen und Grau- bzw. Farbwerten darstellt. Das fotografische Korn wird hier gewissermaßen als der Urstoff aller möglichen fotografischen Abbilder gefaßt. „Bild ist das, was weitere Bilder schafft, zeugt, Bild ist immer unterwegs zum Bild, unabschließbar.“ (Theo Kneubühler, Denklage des Sehens).
Wie alle frühen Filme von Heinz Emigholz spürt SCHENEC-TADY I der Bewegung nach. Die Montage setzt dabei unterhalb der Wahrnehmungsschwelle an, auf der Ebene des einzelnen Bildkaders, und gibt uns die Einsicht zurück, daß der Film eine Bewegung nicht aufzeichnet, sondern projiziert. Auf dem Filmstreifen bleiben lediglich 16 bzw. 24 Einzelbilder pro Sekunde zurück, die sogenannten Fotogramme. Eingefrorene und abstrakte Momentbilder eines bewegten Objekts. Doch die Bewegung ist jeweils das, was zwischen den Bildern stattfand, und daher auf dem Filmstreifen nicht vorhanden. Im Projektor erst wird die Bewegung des abgebildeten Objekts durch die Bewegung der Bilder wiederhergestellt. Im Kino sehen wir nicht die auf dem Filmstreifen belichteten Fotogramme, sondern etwas, das nur unter der Bedingung ihrer bewegten Projektion auftaucht. Nicht nur bewegtes Bild, sondern ein Bild der Bewegung.
SCHENEC-TADY I formuliert das Paradox einer montierten Plansequenz eines Landschaftspanoramas, da die Montage auf der Ebene der Fotogramme operiert und somit in der Projektion negiert wird. Weil die sich hell von der dunkleren Umgebung abhebende Silhouette eines Weges abwechselnd einmal seitenrichtig und einmal seitenverkehrt, und zusätzlich mit leicht gegenläufig nach links und rechts sich verschiebenden Ausschnitten kopiert wird, entsteht eine Bewegung, die in die Tiefe zu gehen oder aus ihr hervorzukommen scheint. Gleichzeitig gibt es weitere Bewegungen, die sich über, zwischen, auf oder unter eine gegebene Bewegung schieben. Statt eines geordneten Nacheinanders ein Nebeneinander, die pure Gleichzeitigkeit. Die Bewegungen scheinen keinen Anfang und kein Ende zu haben, breiten richtungslos sich mal nach vorn, mal zur Seite, mal nach hinten aus. Das Bild gerät in einen Zustand vollendeter Flüssigkeit. Die Bewegung erscheint dabei losgelöst von den gefilmten Objekten, wie auch von der Kamera und gibt uns die Einsicht zurück, daß der Film Bewegungen nicht aufzeichnet, sondern von Grund aus Bewegung ist, mit der er Figuren zu entwerfen vermag. Diese Figur ist in SCHENEC-TADY nicht die Landschaft an sich, sondern die Gestalt ihrer apparativen Wahrnehmung. Der Begriff „Experimental-film“ verdunkelt nur, dass es sich im Grunde um eine Art Impressionismus oder Naturalismus handelt, der auf die Füße der apparativen Technik gestellt wurde.