Heinz Emigholz im Gespräch mit Siegfried Zielinski

Zielinski: Mitte des 16. Jahrhunderts erschien in Venedig eine merkwürdige Sammlung von Geschichten, die den Titel "Peregrinaggio di tre giovani, filiuoli del re di Serendippo" trug. Die Sammlung basiert auf persischen und arabischen Erzählungen. Sie handeln von drei Prinzen, deren Vater ihnen eine hervorragende Bildung zukommen lässt, sie mehreren Scharfsinnsproben unterzieht und sie schließlich in die weite Welt schickt, damit sie von anderen Kulturen lernen würden. Die überaus klugen Prinzen finden in den Wüsten zwischen Ägypten und Sinai und anderen Landstrichen permanent wunderbare Dinge, die niemand gesucht hat. Sie lesen meisterhaft Spuren und Zeichen und entdecken darin Antworten, nach denen niemand gefragt hat. Der Dichter Horace Walpole hat für dieses Phänomen das Wort „Serendipity“ geprägt. Ich könnte kein schöneres finden, wenn ich die Sensation beschreiben sollte, die bei mir die ersten Teile von „Photographie und jenseits“ ausgelöst haben. Serendipity beinhaltet das Gegenteil von Beliebigkeit. Welcher Art sind die Bewegungen, die zu so überaus geglückten Fundenführen, wie wir sie in "Sullivans Banken", "Maillarts Brücken" und jetzt in "Goff in der Wüste" sehen und bestaunen können?

Emigholz: Ich versuche mich gerade zu erinnern, wie es zu den Entscheidungen gekommen ist, diese Filme zu drehen. Da war die Abbildung eines Bankgebäudes von Louis Sullivan, auf die ich Anfang 1993 in einem Antiquariat in Santa Monica gestoßen bin. Ich kann mich noch genau an das damalige Gefühl erinnern: Das gibt es nicht, da muß ich hin, den Raum will ich erfahren. Warum diese plötzliche Erregung? Weil ich im Denken zuvor an diesem Punkt angekommen war – der Schaltstelle zwischen Ornament und moderner Bauweise – und ich so eine Wirklichkeit zwar nicht kannte und sie mir auch nicht vorstellen konnte, aber dennoch postulierte. Mein Gehirn war an dieser Stelle empfänglich, und ein schlechtes Foto kann dann ein Auslöser für eine lange Reise sein. Ich wußte von der Existenz der kleinen Bankgebäude Sullivans vorher nichts, war also in Sachen Architektur nicht gerade bewandert. Die Frage ist jetzt, ob diese Gebäude für mich diese Bedeutung hätten annehmen können, wenn sie in irgendeiner Form von enzyklopädischem Wissen aufgehoben gewesen wären. Das Interessante an der Geschichte mit den Prinzen ist ja, daß ihre umfassende Bildung – und ich nehme mal an, das Bestehen von Scharfsinnsproben bedeutet, sie waren großartige Logiker – dazu führte, sich gegenüber der Welt und ihren Erschei-nungen zu öffnen, und nicht zu verschließen, wie die Halbbildung das vornehmlich tut. Sie „erkannten“ die Welt auf ihren Reisen, nicht im Sinne des Zitats und des Wiedererken-nens, nein, der Reichtum der Welt ging in ihren empfänglichen Augen erst auf. Wie ja auch große Logiker erst angesichts der Oberflächen aufleben, die das lebendige Netz der Verstrickungen darstellen. Erst das lohnt die Mühe des Erkennens und nicht jenes alberne Gerüst einer zu kurz gedachten Logik, das die Körper und ihre Oberflächen vergessen macht. Jedenfalls bin ich frisch und staunend auf die Gebäude Sullivans zugegangen. Nur, als wir die Reisen dann gemacht hatten und die Blickergebnisse in einem Film vor uns lagen, habe ich festgestellt, daß das noch nie jemand zuvor gemacht hatte. Das hat mich dann noch einmal mehr erstaunt. Bei Goff war es anders, ich kannte noch nicht einmal seinen Namen und fand mich irgendwann Ende der 80er Jahre im L. A. County Museum im Pavillion für Japanische Kunst wieder, den er zusammen mit seinem Ex-Schüler Bart Prince entworfen hat. Das Gebäude beeindruckte mich so, daß ich mir den Namen des Architekten aufgeschrieben habe. Die Geschichte war damals aber noch nicht reif für mich. Erst nach einem erneuten Besuch zehn Jahre später ging sie voll los. Die Bewunderung für seine Kunst, Räume zu denken, zu bauen und zu gestalten, steigerte sich dann von Bauwerk zu Bauwerk. Dazwischen lag – retrospektiv gesehen als perfektes Bindeglied – die Beschäftigung mit Maillarts Brücken. Und vor diesen Filmen die mit Gaudís „La Sagrada Familia“ in meinem Spielfilm „Der Zynische Körper“. Darin gibt es schon eine ganze Sequenz ohne Schauspieler, die sich nur noch um die Kathedrale kümmert – das Bauwerk als Träger von Story und Biographie.

Zielinski:
Der Blick, den du auf die gebauten Konstrukte der vergessenen, verdrängten oder an den Rand der etablierten Wahrnehmung geschobenen Architekten wirfst, ist einer der radikalen Zuneigung. Mit dem Zuschauen und Zuhören werden wir zu Komplizen in einem sehr intimen Prozess der Annäherung, der Betrachtung und der Durchdringung, den du gestaltet hast. Wahrnehmen wird Begreifen, im sehr direkten Sinn des Wortes, Sehen zu einem haptischen Vorgang und zugleich zu einem des Erkennnens. Die photographische Filmkamera seziert nicht. Die Intensität entsteht nicht durch Dekonstruktion, sondern durch liebevolle Konstruktion.

Emigholz: Die Augen selbst werden innerhalb meines Konstrukts – also dem eines technischen Mediums – wieder zu dem, was sie schon immer waren: zu Außenstellen und Schnittstellen des Gehirns, die keine Codes benötigen. Sie denken und fühlen zugleich. Der Film gerät so wieder in eine reale Relation zu den Oberflächen der Welt und verharrt nicht nur im Spekulativen. Film kann als „imaginäre Architektur in der Zeit“ bewußt Kreuzungen von Ort und Zeit bewahren und analysieren - also das Sehen und das Erblickte zu einer gegebenen Zeit auch wieder auferstehen lassen. Ich zeige in „Photographie und jenseits“ nur Dinge und Konstella-tionen, die ich liebe, und nur in filmfotografischen Einstellungen, die ich auch liebe. Ich stelle die Einzigartigkeit von Räumen dar, und damit natürlich auch die Unmöglichkeit ihrer medialen Repräsentation. Gerade der Aufwand, den wir in unseren Produktionen mit 35 mm und Dolby Digital Stereo betreiben, macht die Verluste deutlich, die die Medien fortlaufend stillschweigend unter den Teppich kehren.

Zielinski: Du hast das gesamte Projekt zu einem Zeitpunkt begonnen, als die Euphorie über die Digitalisierung der Bilder und sämtlicher Formen des Austauschs einen Höhepunkt erreicht hatte, bei dem einem schwindelig werden konnte. Die elektronische Herstellung und Verteilung von Bildern begann, vehement zu inflationieren. Das allermeiste, was in den 1990ern produziert wurde, wird in der Erinnerung kaum das gegenwärtige Jahrzehnt überdauern. Als die beiden ersten Teile in die Kinos kamen, begann die sogenannte neue Ökonomie zusammenzubrechen. Die Heilsversprechungen der Missionare des Elektronischen entpuppten sich großteils als dreiste Hochstapeleien.

Emigholz: Man wird Dir vorhalten, daß es auf das Festhalten von Konstellationen und komponierten Phänomenen gar nicht ankomme, nur der Austausch an sich sei interessant. Was ich ebenso wie du für höheren Blödsinn halte. Ekstase ist eine Falle, mich interessiert Ausdauer. Die Rechenmaschinen offerieren auf ihren multimedialen Oberflächen nur rudimentär demokratische Akte, meist aber nur assoziativen Schwachsinn. Auf dessen Bandbreite bezogen sind sie auch ganz mitleidslos und von lebendigen Einzelwesen nicht mehr einholbar. Wozu auch? Ab und zu greifen wir in den Fluß und ziehen etwas für uns Nahrhaftes daraus hervor. Der Zufall erfrischt dabei ebenso wie die Recherche. „Photographie und jenseits“ ist dagegen ein Argument für eine entschiedene, endliche Gestaltung und steht eben nicht für das „Meer der Möglichkeiten“, in dem wir abstrakt baden gehen können. Schönheit existiert immer nur zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort und nicht als abstrakte Beziehungslogik. Als Logiker sei mir das erlaubt zu sagen. Nebenbei gesagt, haben wir während unserer Produktion die „neuen“ Medien intelligenter genutzt, als so manche Firma, die das auf ihre Fahnen geschrieben hat. Tag für Tag wurde von der „Filmgalerie 451“ ein Online-Making-Of zu allen 50 Drehtagen im Netz veröffentlicht. Monatlich haben sich weit über 100.000 User diese filmischen Spots angeschaut. So etwas hat es noch nie gegeben, „Making-Ofs“ werden sonst immer nur nachträglich getürkt. Damit sind wir auch nicht mehr abhängig von dem Rödelzeug an Filmjournalismus, der sich zur Zeit in den „alten“ Medien breitmacht. Ab der Uraufführung am 14. Februar 2003 flankieren wir den Film „Goff in der Wüste“ mit der Website www.bruce-goff-film.com .

Zielinski:
Ist dein erneuter Griff zur gravitätischen photographischen Filmkamera auch als eine Handlung des Widerstands zu verstehen? Des Widerstands mit ästhetischen Mitteln? Aber auch des Widerstands gegen eine Kultur, in der der mediatisierte Augenblick obszön geworden ist, in der die Tänze auf den Plateaus zur gesellschaftlichen Pflicht werden?

Emigholz: Alles was man tut, kennzeichnet sich auch durch das aus, was man nicht tut. Man setzt Prioritäten, weil man nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung hat. Das würde ich nicht gleich Widerstand nennen, sondern bewußte Wahl. Die „Tänze auf den Plateaus“ sehen von außen doch reichlich albern aus. Daß die Protagonisten der Neuen Medien für ganz andere Kräfte freiwillig die Rolle übernommen haben, den sogenannten „kleinen“ Leuten das überschüssige Geld aus der Tasche zu ziehen, ist ein stocktraditioneller Mechanismus. Sie wurden klassisch vorgeführt. Aber wie soll man jemandem die „Vernachlässigung eines Kerngeschäfts“ vorwerfen, der noch nie „Gefühle in den Augen“ gehabt hat? Vor lauter Freude über neue Assoziationsmaschinen, die einen nahezu religiösen Schein von Unendlichkeit offerieren, sind die Tatsachen der körperlichen Gebundenheit des Geistes glatt übersehen worden. Ich war für meine Arbeit froh, daß die Sphäre der Heilsversprechungen endlich vom Film abgezogen worden und irgendwo anders gelandet sind. Vor diesem Hintergrundgeräusch – nämlich der Verlagerung gesamtkunst-werklicher Anstrengungen auf ein neues, universaleres Medium – hat sich für den Film eine neue Situation ergeben. Er kann sich wieder auf das konzentrieren, was er wesentlich ist: Abbildungs-funktion und lineare Strecke, also Repräsentant des Raumes und Agent des Dramatischen. Film kann sich von dem aufgezwungenen Anspruch befreien, soziopolitisch unterrichtende, oberlehrerhafte, assoziativ essayistische Montagebeweise zu liefern - den Informationskitsch, der die Welt mit seiner Verständnisdecke überzieht, soweit die Antennen und Netze reichen. Nach allem, was Medien inzwischen alles vermögen, ist das so etwas wie ein zweiter Paradigmenwechsel: Die Wirklichkeit soll nicht mehr mit Sprache überzogen und interpretiert, sondern „nur“ so perfekt wie möglich mittels einer intakten fotografischen Oberfläche im Sinne einer „Vorführung“ gezeigt werden - ein Motiv Sensationso alt wie die Geschichte des Films, aber lange Zeit in einer Nebenlinie verschüttet.

Zielinski: „Photographie und jenseits“ entfaltet seine Wirkung auf zwei Ebenen, auf der Ebene des einzelnen Films, den du in das Projekt einfügst, aber auch als Arbeit an einem film-visuellen und audiovisuellen Archiv. Sukzessive entsteht eine Enzyklopädie der Mittel, mit denen eigenwillige Architekten Räume und Orte akzentuiert, verändert, transformiert haben.

Emigholz: Ja, die Dinge können, von Bedeutungszuweisungen befreit, wieder für sich selbst sprechen. Film kann wieder einfach nur zeigen, und muß sich dabei tatsächlich messen lassen an dem, was er abbildet und wie er das tut. Also ein Wort zu meiner Aus-wahl: Die Gruppe „Architektur als Autobiographie“ befaßt sich mit der Repräsentation architektonischer Räume, die ich in der sogenannten „Architekturgeschichte“ für sträflich vernachlässigt halte. Ich zeige in „Goff in der Wüste“ etwas, das von der „Internationaler Stil“ und „Bauhaus“-Bewegung nahezu mit kriminellen Mitteln unterdrückt worden ist. Bruce Goff ist – wie Rudolph Schindler – vorsätzlich marginalisiert und ins Absatz gestellt worden. Bloß weil sie keine Ideologen waren, die weltweit agieren wollten, sondern sich den bestimmten Orten und jeweils besonderen Gestalten ihrer Bauten verpflichtet fühlten. Der Film hat jetzt die Kraft, etwas so ins Zentrum zu stellen, daß es nicht wieder wegzudiskutieren ist. Ein Witz am Rande: In den Siebziger und Achtziger Jahren gab es – ich glaube von der UNESCO initiiert – das Projekt, das „Weltkulturerbe der Architektur“ zu verewigen. Diverse Produktionsfirmen haben sich daran gesundgestoßen, berühmte Bauwerke billig auf Video abzuschwenken. Dieser Mist wurde dann auf Nimmerwiedersehen in Archive versenkt. Man müßte mal ein Forschungsprojekt daraus machen, diese Produkte zu begutachten. Danach kann die Arbeit wieder von vorne losgehen. Den „Archiv“-Gedanken, der ja ein enzyklopädischer ist, kann ich allerdings nur gegenüber meiner eigenen Produktion durchsetzen. Ich zeige in der Untergruppe „The Basis of Make-Up“ alle meine Notizhefte, Skizzenbücher und Zeichnungen in möglichst sinnvollen Zuordnungen. Das ist zugleich vollständig, als auch eine Parodie auf Enzyklopädie. Deren Ziele reichen ja über den Einzelnen hinaus. Das Persönliche stört in ihrem Rahmen nur, und mit dieser Störung befasse ich mich eingehend.

Zielinski: Ist das eine Aufgabe, die du dem photographischen Film nach seinem Durchlauf durch die Beschleunigungs- und Reinigungsmaschinen des Elektronischen zuweist? Die dauerhafte Konservierung (bau)ästhetischer en und des achtungs-vollen Blicks eines Künstlers auf dieselben? Möglicherweise das Kino als im besten Sinn des Wortes Museum, als Stätte für die Veredelung von, in diesem Fall, gebauten Phantasien?

Emigholz: Ich kann keine Aufgaben formulieren, sondern nur das anbieten, was ich am Besten kann: den Raum auf der Fläche repräsentieren. Ich sehe mich als eine qua Vertrag mit der Menschheit ausgehaltene Kameraperson, die ihre Blickresultate zur Verfügung stellt. Nicht mehr und nicht weniger als eine Utopie ohne Dramaturgie ist das. Ich glaube, daß jeder Einzelne den Raum jeweils anders als alle anderen wahrnimmt. Und aus der Wahrnehmung dieser Nuancen entstehen Kunst und Gestaltung. Die Welt zeigt sich uns, und wir führen uns gegenseitig die Welt vor – nicht nur in den Facetten der Dinge, sondern auch in denen unserer Blicke. Im Frieden ist das ein unendlicher Prozeß, den man lieben sollte.

Der Medienwissenschaftler Siegfried Zielinski hat 2002 bei Rowohlt das Buch „Archäologie der Medien – Zur Tiefenzeit des technischen Hörens und Sehens“ veröffentlicht.

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