Gespräch Stefan Grissemann mit Heinz Emigholz am 4. Dezember 2009

Abschrift des auf der DVD "THE Formative Years (I)" veröffentlichten Video-Interviews:

Gespräch Emigholz mit Grissemann (93.67 KB) 

Stefan Grissemann:  Herr Emigholz, Ihr erster filmische: Werkblock reicht von 1972 bis 1977. Das sind sieben Arbeiten. Können Sie sich noch in den jungen Filmemacher versetzen, der diese Filme gemacht hat? Wie blicken Sie auf diese Filme zurück? Oder sind es eher die Filme, die fremd auf Sie zurückblicken, wenn Sie die heute sehen?

Heinz Emigholz:   Man sagt ja so schön, alle sieben Jahre setzt man sich neu zusammen. Ich habe da so Ideen, was mich damals umgetrieben hat. Die Filme selbst sind mir nicht fremd. Sie sehen vielleicht sehr anders aus als das, was ich jetzt mache. Aber ich sehe starke Verbindungen. Das waren Filme, die ich gemacht habe, um sie selbst zu benutzen. Ich war damals ein nervöser Mensch und nicht gerade verbal gut drauf. Ich habe das für mich als eine Form entdeckt, etwas zu machen, das mich beruhigt. Diese Filme sehen ja auf den ersten Blick sehr schnell oder sogar chaotisch aus. Aber sie sind es nicht. Wenn ich sie mir anguckte, hat sich so etwas wie Beruhigung eingestellt.

SG:   Tatsächlich.

HE:  Ja, und das mag sich seltsam anhören, aber das war so.

SG:   Also eine gewisse therapeutische Funktion hatten die Filme.

HE:   Vielleicht hat ja Kunst so eine Funktion, dass man etwas macht, was man gerne selbst sehen will. Ein Ergebnis, mit dem man etwas anstellen kann. Das sind Kompositionen. Das können Sie sich im Kopf nicht vorstellen, was dabei herauskommt. Sie müssen es wirklich machen, und dann erst haben sie das Ergebnis. Insofern ist das experimentell. Es geht nicht darum: Ich habe eine tolle Idee, ich habe eine Story, die muss jetzt adäquat umgesetzt werden. Ich habe hier einen Score mit ganz vielen Codes für einzelne Bilder. Aber wie das dann nachher aussieht, das ist erstmal herauszufinden.

SG:   Das heißt, Sie waren auch bisweilen überrascht von der sinnlichen Wirkung, die sich da entwickelt hat?

HE:   Auf jeden Fall. Die Filme waren das Ergebnis vieler Tests und Proben, um darauf zu kommen, wie sich Geschwindigkeiten und Bewegungsillusionen zusammensetzen. Das sind ja alles Illusionen, weil ich immer nur einzelne Bilder in den ersten fünf Filmen aufgenommen habe. Man muß sehr viel experimentieren, um herauszufinden, was ist eigentlich mein Instrumentarium.

SG:   Sie haben Ihre filmische: Karriere sozusagen begonnen mit Studien zum filmischen Einzelbild. Das ist, könnte man sagen, die Urzelle des Kinos. Also Sie starten ihre Laufbahn sehr grundlegend. Ging es darum, Ihr Medium sehr grundlegend zu erforschen?

HE:  Ja, ich hatte davor auch schon Filme gemacht, so seit 1968. Es ging los mit einem Film zum Maler Caspar David Friedrich. Den fand ich entsetzlich in seiner Art, repräsentative Posterlandschaften zu malen.

SG:   Sie fanden Caspar David Friedrich schlecht oder den Film dazu?

HE:   Den Maler. Der Film war so etwas wie eine Rebellion gegen seine romantische Naturdarstellung. Ich weiß nicht, wie alt ich war, vielleicht 18 oder 20. Das war ein naives Unternehmen aus dem Gefühl heraus, man muss etwas dagegensetzen. So einen Naturbegriff habe ich einfach nicht, und ich finde es auch entsetzlich, sich in diesem Postkartenraum wiederfinden zu sollen. Das war mit zwei Freunden an einer Schule. Beide sind auch Filmemacher geworden, Rüdiger Neumann und Walter Uka. Wir hatten ähnliche Ideen und haben dann mehrere Filme gemacht über das Thema. Seitdem haben wir nicht zusammengearbeitet. Ich hab dann noch viele Super-8-Filme gemacht, die auf Hamburger Filmshows gezeigt wurden. Das hat mich aber alles letzten Endes nicht bewegt. Und dann hab ich halt sehr strikt angefangen, Philosophie zu studieren und Sprachwissenschaften.

SG:   Die Filme, die Sie erwähnt haben, das sind alles Filme vor der Schenec-Tady–Serie?

HE:   Ja.

SG:   Also, Sie zählen die nicht.

HE:   Die habe ich zwar irgendwo liegen, aber die zähle ich nicht. Hegel zu studieren, fand ich viel wichtiger als Filme zu machen. Das ist dann aber nahezu im Wahnsinn gelandet. Das Filmemachen war dann so etwas wie der Rettungsanker, in die Realität zurückzukommen. Dabei war mir nicht das Einzelbild wichtig, sondern die Konstruktion der filmischen Bewegung. Also, was ist das eigentlich. Ich hatte eine extreme Abneigung gegen Erzählfilme, die sofort denken, wir können hier irgendetwas repräsentieren, wir können irgendetwas abbilden, wir können eine Story umsetzen. Theater hat mich null interessiert. Was mich aber interessiert hat, war die Bewegung selbst, also was bewegt mich am Film, was setzt mein Denken in Gang, und was regt mich an. Und dann kam es zu diesen Kompositionen, um erst einmal zu analysieren, wie kommt es überhaupt zu einer filmischen Bewegung. Wir wissen ja alle, es sind einzelne Bilder, die diese Illusion erzeugen. Was passiert eigentlich, wenn ich die einzelnen Bilder des Filmstreifens nicht mehr als lineare Kette begreife, sondern die einzelnen Bilder als Repräsentanten verschiedener Bewegungen, die ich ineinander setzen kann?

HE:   Dazu musste ich einen Score schreiben, der diese einzelnen Bilder zuordnenbar filmisch erzeugbar machte. Und daraus sind diese fünf ersten Filme entstanden. Es gab Themen wie der Schwenk, der Zoom oder die Brennweitenveränderung, die 180- oder 360°-Bewegung, und wie setzt sich das Ganze zusammen in einer großen Oper von Möglichkeiten. Was ich erfüllt sehe in dem Film Schenec-Tady III. Ab da hätte ich auf ewig solche Filme machen können.

SG:   Auch immer wieder neue Variationen.

HE:   Ja, man könnte das dann in verschiedenen Landschaften machen. Aber für mich war das Programm damit erledigt. Dann kam eben Hotel, das ist ja dann ein Rückbezug auf reale Bewegungen oder die Analyse von wirklich Bewegungsabläufen mit Personen, also Live Action.

SG:   Darauf wollte ich auch kommen. Bevor Sie also 1975/76 zu den Filmen Hotel und Demon gekommen sind, haben Sie diese praktisch menschenleeren Filme gemacht. Da gibt es ja kaum Spuren von Zivilisation drin. Ab und zu mal ein Auto am Rande des Horizonts.

HE:   Oder es gehen mal Leute durchs Bild.

SG:   Ja, aber relativ selten. Ja gut, bei Tide fahren die Schiffe vorbei. Aber ging es da auch darum, so einen archaischen Gedanken zu fassen und zu sagen, so könnte die Welt auch schon vor den Menschen ausgesehen haben, …

HE:   Nein.

SG:   ... dass das Kino vor den Menschen schon da war? Es gibt ja Leute, die behaupten, die Geschichte des Kinos ist länger als die Geschichte der Menschen.

HE:   Das stimmt, weil die Arten, über Wahrnehmung nachzudenken oder im filmischen Sinn wahrzunehmen, sind ja schon vor einem technischen Medium da. Die Medienarchäologie zeigt das. Aber es war nicht so, dass ich gesagt habe, ich will eine menschenleere Welt zeigen. Die Neutronenbombe war damals ein großes Thema. Aber das war überhaupt nicht meine Absicht. Wenn ich nur mit einzelnen Bildern arbeite, dann habe ich natürlich sofort den Zeitraffer-Effekt, wenn ich es mit Live Action vor der Kamera zu tun bekomme. In dem Film Tide sehen Sie das. Da ist Ebbe und Flut, und da fahren die Schiffe. Da sehen Sie manchmal auch, wie schnell oder wie langsam ich gearbeitet habe. Und gleichzeitig sehen Sie in den Raumkrümmungen, wie sich die Bewegung in den Raum hinein verzieht. Ich habe mir die Drehorte immer sehr genau ausgesucht. Bei Schenec-Tady aus anderen Gründen. Ich brauchte eine Landschaft, die einen geklärten Vordergrund hatte. Also einen niedrigen Vordergrund und dann eine Kulisse, das ist der Wald. Das war im Taunus auf dem Hasenkopf. Da hatten sie den Wald gerodet für ein Wasserwerk. Ich habe lange gesucht nach so einem Ort. Da war es möglich, sich genau in die Mitte dieser gerodeten Fläche zu stellen. Und dann ergibt das diese Struktur. Es ging mir um die Struktur des Abgebildeten. So viel Erfahrung hatte ich da ja schon, dass diese Strukturen den Film zum großen Teil mitbestimmen. Der Film Arrowplane zum Beispiel macht die gleiche Komposition mit drei verschiedenen Landschaften. Da sehen Sie, wie die Landschaft die Struktur oder die Komposition kaputtmacht, also diese Wechselwirkung zwischen Landschaft und Komposition.

SG:   Sie nennen den Film Tide und nicht "Tide" mit dem englischen Begriff?

HE:   "Tide" ist ein norddeutsches Wort für Ebbe und Flut. In Amerika heißt es Tide. Da hieß auch ein Waschmittel so.

SG:   Und Arrowplane ist natürlich nicht der Begriff für Flugzeug.

HE:   Das ist so ein Wortspiel, das mit Pfeil zu tun hat.

SG:   Aber es taucht ja überhaupt kein Flugzeug auf in dem Film.

HE:   "Arrow" ist auch der Pfeil, also dieses Pfeilartige Hin und Her. Das kann man vielleicht kritisieren, was ist denn das für eine komische Titelfindung?

SG:   Kritisieren will ich gar nicht. Es ist ein Rätsel. Und es bleibt ein Rätsel.

HE:   Ja, diese Überflugshandlung oder diese Illusion von Überflug, die da entsteht,

SG:   Sie sind schon mit diesen frühen Nicht-Tonfilmen, nach Amerika gereist und haben die vorgeführt.

HE:   Schenec-Tady, der erste Film, wurde 1973 in London uraufgeführt auf dem Festival of Independent Avantgarde Film. Und kurz danach auf der Hamburger Filmschau. Den Titel Schenec-Tady hatte ich auf einer Postkarte gefunden. Ich fand dieses abgehackte Wort so gut in Bezug auf die Komposition des Films. Ich hatte keine Ahnung, was es bedeutet. Die Postkarte hatte ich in Hamburg auf der Straße gefunden, eine farbige Vollretusche. Da stand drauf "A Scene Near Schenec-Tady", und ich dachte, Das ist ein toller Name. Ich war als Fotoretuscheur ausgebildet worden und habe andauernd Vollretuschen gemacht, also zum Beispiel für Warenkataloge, s/w-Fotos in Farbfotos umgespritzt. Da war kein Quadratmillimeter mehr das Originalfoto, aber es mußte aussehen wie ein Foto. Und diese Art von Tätigkeit hat mich sehr früh gelehrt, dass Fotos keinen Beweischarakter haben oder dass sie nicht unbedingt Realität repräsentieren. Weil ich ständig, damit befasst war, für eine Zeitung Fotos so zu retuschieren, dass man nicht sehen konnte, dass sie retuschiert worden sind. Meine Arbeit war immer am Erfolgreichsten, wenn man sie nicht mehr erkennen konnte.

SG:   Das ist auch der Sinn der Retusche gemeinhin.

HE:   Aber das hat bei mir dazu geführt, einen völlig anderen Weg einzuschlagen und zu sagen: Künstlichkeit ist sowieso die Prämisse der technischen Abbildung. Dann mache ich es eben super-künstlich und lege gar keinen Wert darauf, dass sie so tut, als sei sie realistisch.

SG:   Ich habe nach Ihren Amerikareisen gefragt, weil Sie die Filme da auch im Rahmen von Live-Performances gezeigt haben, oder wie war das? Sie haben zumindest so konzertähnliche oder happeningähnliche Situationen hergestellt.

HE:   Da muss ich ein bisschen ausholen. Mit Schenec-Tady war es nämlich so: Der amerikanische Filmemacher Larry Gottheim kam auf diese Hamburger Filmshow und hat sich den Film nur angeguckt, weil Schenectady ein Ort im Staat New York ist, 100 km von Binghamton entfernt, wo er lehrte. Er hatte da innerhalb der Literaturabteilung eine der ersten Filmschulen aufgebaut als Filmemacher, eine sehr gute Filmschule. Er hat Ken Jacobs und auch Nicholas Ray da hingeholt. Das ist in der ersten Welle entstanden, in der die New American Cinema Leute Schulen gegründet haben. Larry hat auf der Hamburger Filmshow Barn Rushes gezeigt und andere Filme, die ich auch sehr gut fand. Ich habe die da zum ersten Mal gesehen. Und da ist er in die Schenec-Tady–Show gegangen und hat mich angesprochen. Ich hatte damals schon den absoluten Drang, Deutschland zu verlassen. Und wenn man diesen Drang hat, sucht man sich die erstbeste Chance, die sich bietet, und sagt: Der Larry hat sich den Film angeguckt, der wohnt in Binghamton, ich hab einen Film gemacht, der Schenec-Tady heißt. Ich muss jetzt versuchen, auf diesem Weg nach Amerika zu kommen. Und er hat mich eingeladen, dahin zu kommen. Und so bin ich da gelandet 1974.

SG:   Und wie lange sind Sie geblieben?

HE:   So 15 Jahre. Also, ich filmte hier und da, bin hin- und hergeflogen, aber so richtig mit Wohnung und allem drum und dran so bis in die 90er Jahre.

HE:  Aber nun zu den Performances, nach denen Sie gefragt haben. In Hamburg gab es um die Zeit eine Gruppe von Schriftstellern, Filmemachern, Malern, ich nenn mal ein paar Namen: Hilka Nordhausen, Silke Grossmann, Klaus Wyborny, Marcia Bronstein, Kiev Stingl, Christoph Derschau. Wir haben damals kleine Magazine produziert, literarische Magazine, eines hieß Boa Vista, ein anderes hieß Henry. Das ging in Amerika dann weiter. Ich habe in The Paris Review und in anderen, Ideolects oder No Rose, veröffentlicht, bei Kleinpressen, also in selbst verlegten literarischen Magazinen. Ich hatte da einen kleinen Set von Akten, also Auftritte. Da wurden dann auch Dias gezeigt und zum Teil auch diese Filme.

SG:   Das waren dann aber auch Lesungen, die Sie selbst gemacht haben.

HE:   Lesungen und Shows mit Dias, auch mit diesen Filmen, die dann dazwischen auftauchten.

SG:   Das wurde auch rezensiert in den Zeitungen, nicht? Da gab es schon ein Interesse an dieser Art von Spektakel.

HE:   Das hab ich zum Teil ja auch auf der Berlinale gemacht, als es noch möglich war, solche mehr performativen Sachen da zu machen. Also ich kann mich erinnern an Berlinale-Aufführungen in den 70er Jahren, wo Dias gemischt waren mit Filmen und so weiter.

SG:   Sie haben Ken Jacobs erwähnt. War das New American Cinema, das ja auch eine starke strukturalistische Seite hatte in den frühen 70ern, also Hollis Frampton, Michael Snow, etc., war das für Sie auch ein Modell? Sie haben sicher diese Filme gesehen damals. Also zum Beispiel Hollis Framptons' Zorns Lemma? Das ist ein Film über Sprache. Den könnte man sehr schön mit Demon vergleichen. Es ist ein ganz anderer Film, aber beide Filme sind sehr interessiert an Syntax, Semantik, Linguistik. Man könnte auch Michael Snow zu bestimmten Ihrer Filme zitieren als ein Vergleichsmodell. War das so, dass Sie beeinflusst waren von diesen Leuten und Filmen?

HE:   Die New American Cinema-Bewegung und die Filmmakers Coop waren für die Hamburger Filmemacher Coop garantiert ein großes Vorbild. Also, sich überhaupt so zu organisieren als Produzentengruppe und selbst zu versuchen, einen Vertriebsweg zu finden und Möglichkeiten, etwas zu produzieren. Sie müssen wissen, dass es für diese sieben Filme, die wir jetzt behandeln, keinen Pfennig öffentliches Geld gab. Die sind alle privat finanziert worden oder eben durch gegenseitige Hilfeleistungen ...

SG:   Oder durch Retuschejobs.

HE:   Zum Beispiel, ja. Die Shows in Amerika, die brachten ein bisschen Geld. Von Anfang an habe ich immer ein bisschen Geld bekommen, wenn Filme gezeigt wurden. Das war sehr wenig, aber man konnte dann weitermachen. Jetzt zu den Vorbildern. Die Coop-Bewegung, auch die Londoner Film Coop, waren präsent. Wer mir großen Eindruck gemacht hat Anfang der 70er, war Michael Snow.

SG:  Der ja Kanadier war, aber auch in New York rezipiert wurde.

HE:   Seine Filme waren absoluter Bestandteil des New American Cinemas und der New Yorker Film Coop. Im gewissen Sinne waren die Filme von Michael Snow aber sogar das Motiv, etwas Anderes zu machen. Michael Snow hat – jetzt denke ich an Back and Forth oder an La Région Centrale – immer mit Live Action gearbeitet. Er hat immer mit einer Kamera gearbeitet, die realistisch 24 Bilder aufnimmt und wiedergibt. Und dann gibt es diese Verwischungen durch Geschwindigkeiten. Aber er ist nie in die Pixilation reingegangen. Für mich war es, im Gegensatz dazu, wichtig zu sagen, ich will, dass diese Bewegungen sich in meinen Kompositionen selbst analysieren. Wie zum Beispiel in Arrowplane, wo ein Schwenk sich quasi in sich auflöst, indem er alle Stationen, die er von A nach B durchläuft, noch mal mit sich selbst multipliziert. Das führt zu dem visuellen Ergebnis, daß man nicht nur einen Schwenk hat, sondern mindestens zwei Schwenks, und die lösen sich voneinander ab und wachsen wieder ineinander. Das ist prinzipiell etwas ganz Anderes, als wenn ich mit Live Action oder einer realistischen Kamera arbeite. Und diese Unterschiede waren mir damals extrem wichtig. Zorns Lemma und Hollis Frampton habe ich erst kennengelernt, als ich in Amerika war, durch Shows im Museum of Modern Art oder im Anthology.

HE:   Wer mir und vielen von uns in Hamburg wirklich wichtig war, das war Kurt Kren. Weil ich bei Kurt so einen materialistischen Ansatz gesehen habe, wo ich dachte, da geht es weiter. Ich dachte auf der Materialebene mit Film und nicht über Repräsentationen nach. Mich interessierte nicht, was etwas bedeuten soll. Sondern ich wollte, dass durch die filmische Aktion oder das filmische Produkt selbst wieder etwas in meinem Gehirn erzeugt wurde. Ich wollte nicht, dass ein literarisches Zitat umgesetzt wird, sondern daß Energie erzeugt wurde. Es ging um Energie, das ist ein guter Begriff dafür. Eine filmische Energie, die rüberspringt und das Gehirn entzündet.

SG:   Sie haben irgendwo mal gesagt, dass Sie richtig süchtig waren nach der Energie, die aus diesen Filmen kam.

HE:   Ja, das meinte ich auch vorhin mit "beruhigt". Ich fand das total stupide, was ich sonst so sah, in dieser Überheblichkeit, die man natürlich hat als Jugendlicher. Aber gleichzeitig war auch die Universität am Rande des Schwachsinns mit irgendwelchen K-Gruppen. Ich war wirklich froh, dieses Land verlassen zu können. Amerika war dann für mich die Rettung. In Deutschland wäre ich verrückt geworden. Drüben konnte man über Dinge nachdenken, da konnte man Dinge in den Raum stellen, da gab es Kino. Auch wenn die Gruppe nur aus 50 Leuten bestand. Das ist mehr, als wenn Sie alleine irgendwo rumhängen müssen und langsam verrückt werden. Auch dieser Anfang, den Sie eben zitiert haben, also das Zurückgehen auf die Ursprünge war wichtig für mich. Man kann natürlich auch sagen, wie kann sich das jemand einbilden, noch einmal diese Bewegungen neu zusammensetzen zu wollen. Jetzt sind wir soweit fortgeschritten, Spielfilme machen zu können, und dieser Idiot macht da wieder Einzelbildfilme. So kann man sich die Geschichte ja auch vorstellen, als einen ewigen Fortschritt zum Spielfilm hin. Ich komme mir ja inzwischen so vor, als ob die Welt nur noch von Schauspielern bevölkert ist.

SG:   Sie haben eigentlich jahrelang gebraucht, um überhaupt Ton zu thematisieren in Ihrem Kino. Warum haben Sie solange gewartet, den Ton zu bearbeiten? Weil es die Sache weiter kompliziert hätte und Sie wollten die Sache einfach halten? Oder ging es da um etwas Anderes?

HE:   Erstmal war Ton gar kein Thema. Ich hab das gar nicht als Ausschluss begriffen, sondern es ging mir einfach nur um Bilder und wie die sich zusammensetzen. Und wie sich Bewegung zusammensetzt.

SG:   Aber das ist ja noch mal ein Indiz, dass Sie tatsächlich zurück zum frühen Kino wollten, wo der Ton auch kein Thema war. Eigentlich gehen Sie ja zurück zu Muybridge oder Marey, zur Serienfotografie, zu diesen Einzelbildern vor Lumière.

HE:   Ja, wie setzt sich Bewegung zusammen. Bei Einzelbildern von Ton zu reden ist natürlich Schwachsinn. Einzelne Bilder haben keinen. Fischinger usw., die haben dann Musiken draufgemacht. Das hat mich aber gar nicht interessiert, jetzt eine analoge oder irgendwie stimmungsmäßig zugeordnete Musik zu diesen Filmen zu machen, das stand außer Frage. Diese Art von Synchronität fand ich ganz schlimm.

SG:   Dann kam aber Hotel, 1975/76 hergestellt, wo Sie sehr wohl Ton verwenden, auf eine ziemlich gute und sinnliche, drastische Weise. Wie kam es dazu? Waren Sie da zunächst unsicher, ob Sie das überhaupt wollten, oder war das klar, dass das zum Tonfilm wird.

HE:   Der Film Hotel ist für mich in zweifacher Weise ein Übergang. Einmal, weil er sich mit realistischer Bewegung befasst. Da geht jemand in San Diego die Straße entlang mit einer Kamera. Und das ergibt so etwas wie ein Dreieck, da gehen zwei Leute und die Kamera geht auch. Und das wird von A bis B gefilmt. Und dann gibt es Ausblicke aus meiner Wohnung in der Hudson Street in New York auf die Straße, und ich verfolge die Autos, die unten auf der Straße fahren mit dem Teleobjektiv. Dann gibt es die Totale auf die Hudson Street mit dem kleinen Hot Dog Stand. Und dann gibt es eine Szene in Hamburg im Zippelhaus, und dann kommt etwas, was mir schon immer sehr seltsam vorkam beim Ton. Wenn ich zum Beispiel einen Raum filme mit einem Fenster. Draußen ist viel Verkehr, super laut, und wir sitzen da und frühstücken. Draußen ist Ton, drinnen ist Ton. Wofür soll ich mich da entscheiden, was ist denn jetzt die Wahrheit? Und es ging ja im gewissen SInne noch um so etwas wie eine filmische Wahrheit. Da hab ich gedacht, ich leg einmal die Schärfe nach draußen, nehme den Ton außen auf und mache eine zehnminütige Einstellung. Im zweiten Take lege ich die Schärfe nach Drinnen und mache den Ton drinnen. Und dann kommt eine Transformationspassage in dem Film: Wie komme ich von der realistischen Aufnahme zur Analyse? Ich fange an, die innere und äußere Szenerie immer mehr ineinander zu setzen. Es ergibt sich da sogar ein merkwürdiger Zoomeffekt, weil die Brennweite ein bisschen verändert wurde. Ich fange also an, die äußeren und die inneren Aufnahmen ineinander zu setzen, indem ich in B immer die Zeit weglasse, die in A gezeigt wird. Und dann verkürze ich das zunehmend, und nachher sehe ich plötzlich einen Raum, der science-fiction-mäßig zwei Zeiten verhandelt, die gleichzeitig stattfinden.

SG:   Ja, ja, das ist so ein sich beschleunigender Parallellauf der Zeitschichten, der da stattfindet.

HE:   Die Zeit wächst ineinander. Man sieht dann, es ist ruppig und trotzdem flüssig, weil die Bewegung flüssig weitergeht. Dann bin ich plötzlich in einer Welt, in der Zeit analysiert wird. Dann kommt diese Totale aus dem ersten Teil und wird positiv und negativ ineinandergesetzt. Die Autos auf der Hudson Street werden seitenverkehrt ineinander gesetzt. Und dann kommt die lange San-Diego-Passage, wo die Zeit von A nach B gleichzeitig mit der Zeit von B nach A stattfindet. Und wenn Sie mich gefragt haben, wo sind eigentlich die Vorbilder, muss ich sagen, extrem stark in der Literatur, damals jedenfalls. Also, Rimbaud oder auch Proust und Philip K. Dick. Das waren Leute, die Zeit in einer Weise verhandelt haben, wie ich das eigentlich im Film nicht kannte.

SG:   Erinnerung nicht? Erinnerung, ist das vielleicht das Stichwort?

HE:   Ja, aber auch Gleichzeitigkeitskonstruktionen. Nehmen wir mal Martian Time-Slip von Philip K. Dick. Ich habe damals sämtliche Romane von ihm gelesen, die er in den 60er Jahren geschrieben hatte. Das sind phantastische Meditationen darüber, wie man Zeit anders denken kann. Also was passiert, wenn es einen Riss in der Zeit gibt? Was passiert, wenn es alternative Gegenwarten gibt? Mir war klar, dass ich im Film, weil er ja Zeitbrocken repräsentiert, mit Zeit umgehen kann wie mit Materie, sie also ineinandersetzen kann. Jedenfalls konnte ich auf der Ebene sehr gut denken damals. Dick ist dann ja später verfilmt worden, Blade Runner usw. Was haben diese für eine Behäbigkeit, um überhaupt klar zu machen, was er gedacht hat. Früher dachte ich eben, das kann man durch das Medium selbst viel besser machen. Das hat dann allerdings nicht den realistischen Look.

SG:   Ich finde an Hotel auch schön, dass im Grunde alles, was darin zu sehen ist, ja eigentlich unter die Kategorie das Nicht-Filmenswerten fiel. Ein Frühstückstisch, an dem kaum etwas passiert. Sie reden nicht einmal miteinander. Es gibt also kaum nennenswerte Aktionen. Auch die Straßenszene, zwei Leute gehen einfach die Straße entlang, jeder für sich da in der Sonne, anonyme Menschen. An sich so ein nebensächliches Ding, das aber durch die Bearbeitung erst seinen Sinn kriegt. Es wird filmenswert durch die Art der Präsentation.

HE:   Ja, und dann sehen Sie ja, was passiert, zum Beispiel auf dem Frühstückstisch. Nach zehn Minuten steht die Margarine ganz wo anders und der Eierbecher, und da ist die Hölle los. Oder der Toast fliegt dauernd durch die Gegend. Also wenn Sie nur zwei Stücke Zeit so ineinandersetzen, kriegen sie ein total energetisches Ergebnis, ohne dass sie da etwas Riesengroßes inszenieren müssen.

SG:   Ein Action–Film.

HE:   Einfach, indem sie zwei Zeiten ineinandersetzen. Ich habe ja sklavisch vermieden, das World Trade Center ins Bild zu kriegen, weil ich dachte, so einen repräsentativen Scheiß wie das World Trade Center will ich in meinem Film nicht haben. Das war ja bildfüllend in meinem Schlafzimmerfenster. Deshalb gibt es immer diesen Blick nach unten, auf die Leute, die über die Straße gehen. Das ist natürlich toll mit den Schatten und die Art, wie die Autos dann in die Fensterbrüstung reinrasen. Das waren Phänomene, die mich extrem interessiert haben. Ich habe nie gedacht, das ist nicht filmisch. Es war kein Anti-Unternehmen, sondern eher für Etwas.

SG:   Was ich mir auch gedacht habe bei der Küchentischszene, das hat schon auch sehr viel mit Fotografie zu tun. Also speziell mit der frühen Fotografie, mit langen Belichtungszeiten, wo auch das, was sich bewegt, nicht am Bild ist. Und die Frage, die sich da stellt ist: Was hat sich nicht bewegt für zehn Minuten? Und was wurde bewegt in diesen zehn Minuten? Es scheint alles immer wieder auch auf die Fotografie zurückzuverweisen.

HE:   Der Film ist mir in zweifacher Weise wichtig. Weil das so ein Umschlag ist. Einerseits geht er wieder auf die realistische Bewegung ein. Andererseits aber fängt da an, dass ich völlig anders kadriere als sonst. Die Landschaftsfilme davor sind ja brav horizontal ausgerichtet. Bei Hotel hört es auf.

SG:   Das beginnt schon mit diesem ersten Kippeffekt, der ja stark auf Ihr späteres Werk hinweist.

HE:   In Hotel geht es los. Das hat, wenn Sie mich nach Vorbildern fragen, mehr mit der Fotografie der Russen in den 20er Jahren zu tun als mit anderen Filmen. Wir waren damals – ich habe stark mit der Fotografin Silke Grossmann zusammengearbeitet – fasziniert von deren Art von Fotografie. Das hat uns sofort eingeleuchtet, dass man das machen muss, weil das etwas Anderes freisetzt, in der Wahrnehmung, und auch in der von der Zeit.  

SG:   Das ist eine Dynamisierung der Komposition.

HE:   Sie können auch Dinge miteinander in Beziehung setzen wie nie zuvor. Das fängt aber wirklich erst mit dem Film an. Wenn man im Hochhaus wohnt, guckt man runter und hat keinen Horizont mehr. Es hat damit zu tun, dass man in Umständen lebt, die anders sind. Man geht eben nicht wie Caspar David Friedrich in die Landschaft und macht einen geraden Horizont. Das hätte gar nichts mehr mit unserem Leben zu tun gehabt.

SG:   Diese schöne, erste Einstellung in Hotel, die sie in San Diego gedreht haben, das ist ja fast ein Fundstück, oder? Das haben Sie zwar selbst gedreht, aber aus der Hand gedreht und nicht durch den Sucher geschaut.

HE:   Das war meine Nizo. Ich hatte jahrelang diese Super-8-Kamera. Ich wollte richtig an die Wand ran. Und da kann ich ja nicht mit dem Kopf dahinterstecken. Ich bin selbst so gegangen, und mir war klar, das ist irre, was hier gerade passiert. So eine Mauerecke ist ja auch wie ein geometrisches System. Sie haben eine Horizontale und dann eine Achse in die Zeit hinein, also ein drei-achsiges System. Und Sie bewegen sich darin. Dann gibt es da noch zwei Objekte, die stehen in einem Verhältnis zueinander und bewegen sich auch in dem System. Also ein völlig aufgelöstes, sich bewegendes System, was aber in Realzeit existiert. Und das war es, um wieder in diese Welt reinzukommen, in der wirkliche Beziehungen und reale Bewegungen stattfinden. Denn das andere Programm, die fünf Filme, repräsentiert ja abstrakte Zeit. Da können Sie eine künstlerische Karriere darauf aufbauen und sagen, das ist der Typ mit den Einzelbildern, und der macht jetzt eine Komposition nach der anderen. Das hat mich aber nicht mehr interessiert, weil diese realen Bewegungen, dieses Koordinatensystem, das sich da durch die Gegend bewegt, das war für mich die Auflösung der Sache.

SG:   Man meint dann an Ihren ersten fünf Filmen, so ein bisschen eine Lust auch an der der zeitlichen Dehnung des Spiels mit den Formen zu erkennen. Gab es da auch eine Lust, dem Zuschauer Arbeit zu machen, also ihn ein bisschen auch zu quälen durch die doch zum Teil beträchtlichen Längen dieser frühen Filme?

HE:   Dauer ist auf jeden Fall ein Thema, weil man nur in der Dauer so etwas ausagieren kann. Aber ich muss ganz klar sagen: Der Zuschauer hat keine Rolle gespielt. Auch nicht, ob die Filme nun gnädig aufgenommen wurden oder nicht. Es gab natürlich oft Skandal und Schreierei im Kino. Das hat mich aber nicht interessiert. Ich wollte etwas ausprobieren, und das geht eben nur in einer bestimmten Zeitdauer. Der Blick auf das Publikum war nicht vorhanden. Eher das Gefühl, das Ding muss aus sich heraus stimmen, und die Abhandlung, die da gemacht wird, muss ihre Zeit haben, damit sich überhaupt ein Ergebnis einstellen kann. Man kann es dann nachvollziehen oder auch nicht. Man kann ja auf den ersten Blick denken, das ist ja immer das Gleiche. Was es nicht ist. Es gibt ja keine einzige Wiederholung in all diesen Filmen, weil sie ja letzten Endes, obwohl sie abstrakte Kompositionen sind, linear in der Zeit gefilmt sind. Zum Beispiel habe ich für Schenec-Tady zwei Wochen auf einem Punkt gestanden. Ich weiß noch, es hat geschneit, es hat geregnet, die Sonne hat geschienen. Das ist alles auch noch drin in diesem Filmen. Oder es wurde Tag, und es wurde wieder dunkel. Veränderung ist drin, man muß nur auf einem Level zugucken, der das an einen herankommen lässt. Es gab aber keine Berechnung des Publikums im Sinne von, ich muss hier was machen, was denen entweder gefällt oder nicht gefällt.

SG:   Aber nach welchen Kriterien wurde denn festgelegt, wie lange die Filme dauern. Also Schenec-Tady II ist ja zum Beispiel bedeutend kürzer. Da hätten sie auch sagen können, dieses System hätten wir noch länger halten können. Sie haben aber beschlossen nach etwa 19 Minuten abzubrechen.

HE:   Schenec-Tady war eine bestimmte Komposition, die ausgeführt wurde. Die habe ich in drei Filme verschiedene zerlegt.

SG:   Ja, das ist ja wie Musikstücke, die eben manchmal zwölf, manchmal achtzehn Minuten dauern.

HE:   So ist es. Aber es ist nicht so, dass diese drei Filme die gleiche Komposition verfilmen.

SG:   Sonst wären sie auch alle gleich lang.

HE:   Die eine fängt zum Beispiel mitten in der Bewegung an, wird dann langsam und beschleunigt sich wieder. Oder es kommt vor, dass in der Mitte eine seitenverkehrte oder eine zeitlich invertierte Kopierung stattfindet, und das Ergebnis wird immer grafischer. Also für mich – und das geht mir immer noch so bei Filmen, auch wenn ich mich mit spielfilmähnlichen Konstrukten oder Architektur-Dokumentationen beschäftige – ist der Gegenstand wichtig. Der Gegenstand hier war eine abstrakte Komposition, die etwas in der Zeit durchanalysiert. Und das braucht seine Zeit.

SG:   Es hat Sie tatsächlich nicht unangenehm berührt, wenn Zuschauer da vehgement dagegen rebelliert haben.

HE:   Das war damals ein Normalzustand.

SG:   War es eher eine Art Bestätigung, dass der Spießbürger dagegen war.

HE:   Ich würde das nicht so psychologisch sehen. Natürlich hat man lieber Freunde und Leute, die verstehen, was man macht. Aber letzten Endes war es auch ein zwanghaftes Programm von mir, das alles durchzuexerzieren. Wenn es ein paar Leute gab, die einen Sinn darin sahen, hat einem das schon gereicht. Es war dann natürlich gut für mich, eine Bestätigung aus Amerika zu bekommen. In Deutschland gab es nur das unmittelbare Umfeld in Hamburg. Das war eine fixe Künstlergruppe, die sich selbst auch als Publikum begriffen hat. Das hat sich dann erst ausgeweitet, als ich aus Deutschland weggegangen bin. Ich merkte dann, so isoliert bin ich ja gar nicht, wie ich dachte.

SG:   Also mit dem Übergang von den Einzelbild-Filmen zu den Realfilmen, also Hotel und Demon, kommt ja so etwas wie ein erstaunlicher Unterhaltungswert in Ihre Filme rein. Das hat sich ja auch niedergeschlagen in der Einladung zur documenta 6. Hotel ist da gelaufen. Wie war da die Rezeption?

HE:   Das war im Fridericianum. Wir haben da auch Shows gemacht. Wir waren total isoliert, ehrlich gesagt. Es kam viel später, dass sich die Kunst mit Film beschäftigt hat. Es gab, das hat mir Birgit Hein erzählt, nicht eine einzige Rezension der Filme auf der documenta. Schon erstaunlich, weil gute Sachen gelaufen sind, die jetzt anerkannt sind. Aber die Kunstwelt konnte damals mit Filmen nichts anfangen.

SG:   Mit dem Film Demon sind Sie dann weitergegangen zu einer konkreten Analyse oder Dekonstruktion eines Textes. Da ging es um ein Prosagedicht von Mallarmé, Le Démon de l'Analogie. Den haben Sie im Rahmen einer Partitur wieder fast mathematisch zerlegt und eingerichtet, notiert wie Musik fast und dann auch so gefilmt. Also eine Einstellung pro Wort. Aber drei parallel laufende Sprachspuren, also zwei Übersetzungen und die Originalfassung des Textes. Können Sie sagen, wie Sie daran gearbeitet haben, und wie Sie auf die Idee gekommen sind, diese Sprachdekonstruktion zu machen?

HE:   Ich bin durch den Text selbst darauf gekommen. In dem Text wird verhandelt, dass jemand aus dem Haus geht mit bestimmten Gedanken im Kopf. Er guckt in ein Schaufenster und sieht plötzlich eine Entsprechung: Gerade eben habe ich das gedacht und jetzt sehe ich das im Schaufenster. Ein merkwürdiger Prozess, der innere gedankliche Prozesse mit der Außenwelt in Beziehung setzt. Das ist der Dämon der Analogie, dass im Kopf etwas passiert, und in der Realität passiert etwas Ähnliches, und plötzlich frage ich mich: In welchem System agiere ich eigentlich. Das fand ich absolut faszinierend. Und dann habe ich mir gedacht: Willst du den Text jetzt verfilmen wie einen literarischen Text, oder was kommt jetzt noch dazu? Was mich damals sehr interessiert hat, waren Übersetzung und ihre Unzulänglichkeiten. Also zwischen Deutsch und Englisch, und in dem Fall eben auch Französisch. Und dann dachte ich mir, ich mache einen Film über die Differenzen zwischen diesen Sprachen. Und diese Sprachen finden jetzt gleichzeitig statt. Wenn man gewitzt ist, kann man einer Sprache folgen. Aber man kann nie drei Sprachen gleichzeitig folgen.

SG:   Das ist eine Konzentrationsaufgabe.

HE:   Und dann stellen sie fest, die englische Übersetzung hat vier Sätze mehr als das französische Original. Daraus wird in dem Film dann ein Exkurs gemacht. Ich setze diese Sprachen ineinander und versuche sogar, filmische Entsprechungen für Satzzeichen, für Kommata und Punkte zu finden. Und für Satzenden, da müssen die Agierenden irgendetwas tun. Sie müssen also Grammatik ausagieren und nicht Rollen. Der Text findet zwar statt, aber das Konstruktionsprinzip dieses Films läuft über seine Grammatik. Und zwar über drei verschiedene Grammatiken, die gleichzeitig stattfinden. Das fängt dann locker an, abwechselnd. Dann stellen sie fest: Der englische Teil hat viel mehr Worte oder weniger als der französische. So wurde dann Satz für Satz ein neues System erfunden. Zum Schluss wird gewürfelt, welche Sprache die nächste ist. Und dann verlassen auch die Schauspieler wie im Text das Zimmer, in dem sie vorher waren, und gehen nach draußen und landen vor einem Werkzeuggeschäft. Das war bei uns um die Ecke, wo ich dieses Erlebnis hatte: Ich denke an einen Hammer, und dann sehe ich einen Hammer im Werkzeugladen.

SG:   Draußen sind es drei andere Frauen, nicht?

HE:   Ja, auch Austauschprozesse finden da statt zwischen den Sprecherinnen. Es ist ein Film über Entsprechungen und Analogiebildungen, die aber nicht auf einer repräsentativen, ausagierenden Schauspielerebene stattfinden. Aber eigentlich ist der Film über ein Nichts, über die Differenz zwischen den Sprachen. Das war damals mein Thema.

SG:   Das ist natürlich das Hauptthema. Welche Rolle spielen die sechs schweigenden Männer im Hintergrund, die in immer neuen Choreografien da hinter den Frauen postiert sind im Innenraum?

HE:   Jeder hat eine bestimmte Bewegung bis zum Satzende. Die letzten Worte der Sätze waren an der Wand aufgeschrieben. Sie kannten den Text vorher nicht und mussten also zuhören. Wenn in der Sprache dieses Wort auftauchte, mussten sie irgendetwas machen. Wie so ein Ballett, das auf Arbeit beruht oder Konzentration, zuhören, Stichwort kriegen und etwas tun.

SG:   Wenn man diese Regel nicht kennt, kann es sich nicht erschließen. Der Film bräuchte eine Fussnote, um diese Ebene zu erklären.

HE:   Aber wieso soll man das überhaupt erschließen? Es gibt so viele Dinge, die da stattfinden, die man trotzdem sieht. Wenn von einem Palmenzweig die Rede ist, dann kommen Flugzeuge. Dann gibt es auch den Exkurs, dass drei Flugzeuge starten. Die werden so ineinandergesetzt wie drei Sprachen und drei verschiedene Stationen von Abflug. Das rattert ziemlich im Karton. Das war damals auch meine Idee, etwas zu machen, das den Rahmen sprengt. Das sind ja alles Filme vor der Computerei, und sie mussten noch per Hand geklebt werden. Durch Computerprogramme wäre es heute sehr viel einfacher, solche Filme zu machen. Nur muss man sie jetzt nicht mehr machen. Also, ich würde sie nie mehr machen. Aber ich finde es interessant, dass es eine Vorwegnahme war von bestimmten Prozessen der Computerei, in denen Sie etwas zerlegen können in kleinste Teile und wieder neu zusammensetzten. Also, daß man das Analoge durch Atomisierung quasi immer wieder neu zusammensetzen kann.

SG:   Sie könnten den Film natürlich digital nachbauen. Aber er hätte eine völlig andere Ästhetik dann. Das liegt dann wieder am Material.

HE:   Ja, das wäre wirklich Zeitverschwendung.

SG:   Auch deshalb, weil man sehen würde, dass ein anderer Film dabei herauskäme. Selbst wenn man versucht, ihn völlig identisch nachzumachen, glaube ich nicht, dass man diese Rauheit, die der Film hat, digital rekonstruieren könnte.

HE:   Es gab für diesen Film kein Geld. Das Original ist mit Tesafilm geklebt. Gerade habe ich gehört, das Original-Cordband kann man nicht kopieren, weil die Tonköpfe nach jedem Meter wieder verstopft sind.  Man muß jetzt von der Randspur des Films den Ton abnehmen. Ein sehr schwieriger Prozess, diese Filme überhaupt zu restaurieren und zu digitalisieren. Da gibt es auch so manches Märchen. Diese Filme sind ja damals dafür gemacht worden, dass sie mit 16 oder 18 Bildern projiziert werden. Das können sie mit Video gar nicht hinkriegen.

SG:   Warum nicht, weil es dann schon zu flickern beginnt?

HE:   Normalerweise wird das so gemacht, wenn sie einen Stummfilm haben, der mit 16 Bildern läuft, daß Sie einfach Bilder verdoppeln, um auf 24 zu kommen. Wie wollen sie das aber mit einem Film machen, in dem jedes einzelne Bild neu komponiert ist?

SG:   Stimmt.

HE:   Dann zerstören sie die Komposition. Jetzt haben wir nach langer Überlegung eine Möglichkeit gefunden, daß die Filme auf den DVDs mit 15 fps gezeigt werden. So sind sie viel näher dran am Original als die Videos, die Sie gesehen haben. Es ist ganz interessant, dass man immer denkt, digital ist alles möglich. Ist es aber gar nicht.

SG:   Die strenge Komposition dieser Filme, Demon ist sehr streng gebaut, die brechen Sie doch auf in diesem Film, in dem Sie zum Beispiel den Produktionsprozess offen legen, dass Sie derjenige aus dem Off sind, der die Worte vorgibt und einspricht, die dann nachgesprochen werden. Das taucht ja gegen Ende hin immer mehr auf. Also diese vierte Stimme.

HE:   Ja, ich mische mich dann ein. Wir haben das so aufgenommen. Die haben das nicht auswendig gelernt, sondern ich habe immer das Wort gesprochen, und dann haben sie es nachgesprochen.

SG:   Das wird einem klar, sobald man die Stimme aus dem Off hört, dass das offenbar so produziert wurde. Und dann gibt es den Moment, wo die drei Frauen plötzlich in Lachen ausbrechen. Also diesen kleinen Fehler, den Sie da bewusst drin lassen. Da ging es auch darum, den Produktionsprozess mal zu beleuchten oder offenzulegen, oder einfach um eine kleine Albernheit, die man sich zwischendurch eben leistet?

HE:   Das war ein Event. Ich hatte damals eine Katze, und die war total kamerasüchtig. Wenn irgendwo ein Foto gemacht wurde, ist sie immer genau in die Mitte des Bildes gelaufen. Und das passierte auch während dieser Aufnahmen. Und deshalb lachen die Leute. Katzen scheinen anscheinend zu wissen, wo die Konzentration liegt, da gehen sie dann hin.

SG:   Wenn man Sie reden hört über Ihr strukturalistisches Frühwerk stellt sich die Frage, wieso hatten Sie eigentlich so ein Vertrauen in die Zahlen, in die Mathematik oder die Geometrie? Wo kommt das her?

HE:   Habe ich ja gar nicht. Das waren einfach nur Hilfsmittel. Ich musste ein Aufschreibsystem entwickeln, um das umsetzen zu können. Ich musste mir auf dem Stativ und auf dem Zoomobjektiv Punkte festlegen. Diese beiden Zahlen ergeben einen kleinen Code, mit dem ich eine bestimmte Kameraeinstellung aufrufen kann. Nur das ermöglicht ja, dass ich  etwas komponieren kann. Da wird ja nicht spontan irgendwie hin- und hergeschwenkt. Gar nichts ist geschwenkt. Da ist immer ein Bild nach dem anderen in großer Klarheit aufgenommen worden. Der Punkt war genau definiert, von dem er aufgenommen wurde, auf welchem Gradwinkel er lag und die Brennweite. Und dadurch ist der Punkt auch wieder aufrufbar. Wie Sie in der Musik einen Ton aufschreiben können, und den trifft dann das Instrument genau wieder. Dann können Sie aber diesen Ton von verschiedenen Instrumenten spielen lassen. Ich denke manchmal, in diesen Filmen sind die Instrumente die Landschaften, die dann auf die Komposition zurückwirken.

SG:  Eine Subkategorie Ihrer Photographie und jenseits–Reihe haben Sie genannt Architektur als Autobiographie. Da gehen Sie davon aus, dass Architekten durch ihre Bauwerke und Bauweisen sozusagen ihre Autobiographie schreiben. Gehen Sie auch davon aus, dass Ihre Filme autobiographisch sind in diesem Sinn? Ist Kino als Autobiographie für Sie denkbar?

HE:   Die Tatsache, dass man da wochenlang im Wald steht und so einen Film dreht, deutet natürlich daraufhin. Ich weiß noch genau, das war damals 1972 in Frankfurt. Meine Freunde haben da irgendwelche besetzten Häuser verteidigt. Und morgens haben sie mich in den Wald gefahren und abends wieder abgeholt. Das war mir wichtig, so eine Art Katharsis durchzumachen, um auf irgendetwas zu kommen, was mich wirklich interessiert.

SG:   Wochenlang haben Sie da an so einem Film gedreht.

HE:   Schenec-Tady wochenlang, die anderen vielleicht nicht so lang.

SG:  Hat Sie das nicht manchmal an den Rand des psychischen Ruins getrieben? Oder, dass Sie mal dachten: Okay, ich lass das jetzt, ich kann nicht mehr.

HE:   Nein, weil das hat ja auch etwas Klärendes, wie Meditation.

SG:   Das war Ihre Art der Meditation damals.

HE:   Kann man so sagen. Stupide Arbeitsprozesse, aber gleichzeitig steht man ja an der frischen Luft. Es ist ja interessant, dass gerade stupide Arbeiten manchmal mehr Gedanken freisetzen, als wenn sie einen intelligenten Artikel für eine Zeitung schreiben müssen. Szenarien für Abschweifungen zu erzeugen, ist ja auch eine interessante Geschichte. Sie haben irgendwann einmal diese Komposition geschrieben, Sie haben Tests gemacht. Und dann wissen sie natürlich: Um das Ganze sehen zu können, muss ich da leider drei Wochen stehen und jeden Tag von morgens bis abends ein Einzelbild nach dem anderen machen.

SG:   Sie haben mittlerweile auch ein starkes Interesse am Spielfilm. In den frühen 70er Jahren war das noch nicht so ausgeprägt. Das hat sich erst über die Jahre entwickelt. Kann man sagen, dass sich von den Schenec-Tady–Filmen zu Hotel und Demon hin schon so eine kleine Verschiebung andeutet, dass da schon das spielfilmische theatralische Element ein bisschen stärker ist und, dass sich das über die Jahre verstärkt hat?

HE:   Es ging schon los mit Normalsatz, der gleich nach Demon angegangen wurde. Diese Filme haben innerhalb einer Avantgarde-Experimentalfilm-Szene ein gewisses Ansehen genossen. Als ich dann aber Normalsatz gemacht habe, wurde es problematisch. Weil die Szene diesen Schritt in psychologische oder in nicht aufgelöste psychologische Situationen nicht hinnahm. Ich war damals davon besessen, Szenen zu sammeln, von denen mir nicht klar war, wo sie erzählerisch hinführen. Also ähnlich offen zu arbeiten wie in den Filmen davor, aber mit verschiedenartiger Schauspielerei. Die Filme wurden dann von ganz anderen Menschen anerkannt, Frieda Grafe zum Beispiel. Das hat mir sehr geholfen, dass es dann doch ein Response gab auch in Deutschland. Die waren in der Avantgarde-Experimentalfilm-Szene ausserordentlich unbeliebt diese Filme. Die haben irgendwie Grenzen überschritten, aber innerhalb einer Szene, die sich selbst einzementiert hatte.

SG:   Also bei diesen Filmen ging es dann schon darum, dass ein Publikum auch darauf reagiert, anders als bei den Schenec-Tady–Filmen.

HE:   Das wäre mir schon wieder ein Schritt zu weit. Es ging darum, dass da etwas Anderes verhandelt wurde. Dass man sagt, ich inszeniere Situationen, die ich selber noch nicht richtig begreife. Also eine ganz andere Art von Infragestellung. Es ging um Körper, es ging auch um Sexualität. Da kam etwas ins Spiel, was nicht mehr die reine Lehre war. Die Zeit Ende der 70er bis Ende der 80er war eine ganz harte für mich. Da habe ich zwar neue Verbündete gewonnen, aber die alten, die sind weggebrochen.

SG:   Danke für dieses Gespräch, wenn Sie nicht noch Dinge anzumerken haben, die wir noch nicht berührt haben.

HE:   Könnte sein, aber mir fällt nichts ein. Wenn Sie nichts mehr wissen wollen, dann ist das okay.

SG:   Dankeschön.

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