Die Wiese der Sachen: Seite 4 von 5

Holger Wobker, Hilka Nordhausen, Bernd Skupin Ronald Balczuweit

Mit Gertrude Stein ins Kino

"Welche sonderbare Angelegenheit ist doch die Geschichte! Es ließ sich mit Sicherheit von dem und jenem Geschehnis behaupten, daß es seinen Platz in ihr schon gefunden hatte oder bestimmt noch finden werde; aber ob dieses Geschehnis überhaupt stattgefunden hatte, das war nicht sicher. Denn zum Stattfinden gehört doch auch, daß etwas in einem bestimmten Jahr und nicht in einem andern oder gar nicht stattfindet; und es gehört dazu, daß es selbst stattfindet und nicht am Ende bloß etwas Ähnliches oder seinesgleichen. Gerade das ist es aber, was kein Mensch von der Geschichte behaupten kann, außer er hat es aufgeschrieben (...). Größtenteils entsteht Geschichte aber ohne Autoren. Sie entsteht nicht von einem Zentrum her, sondern von der Peripherie. Aus kleinen Ursachen.” (Robert Musil, Seinesgleichen geschieht oder warum erfindet man nicht Geschichte).
Auch wenn in den Filmen von Heinz Emigholz keine Geschichten mit einem definitiven Anfang und Ende erzählt werden, so wäre der Schluß, daß diese Filme keine Geschichten erzählten, irreführend. Die Unmöglichkeit, den Plot eines Filmes wie NORMALSATZ oder DIE BASIS DES MAKE-UP wiederzugeben, liegt nicht darin, daß es keine Haupthandlung gibt, auf die dann Nebenhandlungen bezogen werden könnten. Die Fäden der stets situativ sich entwickelnden Ereignisse werden nicht nach bestimmten Regeln des Erzählens zusammengewebt. Eher hat man den Eindruck, als würde der Stoff hier aufgeribbelt. Die verschiedenen Stränge, die die zumeist in Bewegung befindliche Kamera auf ihren Erkundungsfahrten durch die Räume des Alltags verfolgt, betonen dies. Das anhand der Filmphotographie beschriebene Prinzip der Homogenisierung der verschiedenen Raumebenen läßt sich auch in den Figurenkonstellationen und der narrativen Struktur der Filme wiederfinden.
Der offene Charakter einer Entwicklung in der Zeit, betreffe er nun die Historie oder auch nur die Geschichte im Sinne der Story, wird für gewöhnlich von einem auktorialen Autor-Subjekt in ein System gepreßt, das die Struktur der Ereignisse, die es zu erklären bemüht ist, zugleich erst herstellt. Die punktuellen Ereignisse werden retrospektiv interpretiert und so in einen kausalen Handlungsablauf überführt. Für die Wahrheit der Geschichte bürgen nicht die Ereignisse, sondern die Identität und Allwissenheit des erzählenden Subjekts. Die ausgeprägteste Form dieser Art von Geschichte bildet der Roman, der nach Gertrude Stein so beruhigend wirke, „weil so viele Leute, man kann sagen jeder, sich an fast alles erinnern können.“ Um die Ereignisse zu ihrem Recht und die Sprache selbst zu Wort kommen zu lassen, bedurfte es des Königsmordes. Die Rede vom Tod des Autors ist spätestens seit den Diskursanalysen Michel Foucaults Allgemeingut geworden. Die Telefonstimme, die zu Beginn des Films DIE WIESE DER SACHEN zu hören ist, hallt wie ein ironisches Echo dieses Todes durch den Film. Ihr Subjekt ist zum Zeitpunkt, da die Stimme von der Ereignissen der Vergangenheit erzählt, bereits verstorben.
Gertrude Stein glaubte an die Fähigkeit des Kinos, die verschiedenen Zeiten und Affekte des Wahrgenommenen einerseits und des Wahrnehmens andererseits derart zu koppeln, daß Vergangenheit und Gegenwart nicht länger sich ausschließende begriffliche Kategorien sind, sondern unentmischbar in Gegenwärtigkeit zusammenfließen.
„Ich selber gehe nie ins Kino oder kaum je praktisch nie und das Kino hat nie mein Werk gelesen oder kaum je. Die Tatsache bleibt daß da derselbe Impuls ist das Problem der Zeit zu lösen in Beziehung zu Emotion und die Beziehung der Szene zur Emotion des Publikums in einem Fall wie im anderen. Da ist derselbe Impuls das Problem zu lösen von der Beziehung von sehen und hören in einem Fall wie im anderen. Es ist kurz gesagt das unvermeidliche Problem von jedem der im Gefüge der heutigen Zeit lebt, das heißt leben wie wir jetzt leben wie wir es haben und jetzt darin leben. Das Anliegen der Kunst wie ich in Composition and Explanation zu erklären versuchte, ist in der aktuellen Gegenwart zu leben, das heißt in der vollständig aktuellen Gegenwart und jene vollständige aktuelle Gegenwart vollständig auszudrücken.“ (Gertrude Stein, Theaterstücke).
Gegenwart und Vergangenheit, Erzählzeit und erzählte Zeit gehen in den Filmen der Trilogie, wie auch später in DER ZYNISCHE KÖRPER, eine unentwirrbare Symbiose ein. Die Erinnerung wird nicht der Kontinuität der Geschichte, der in der Vergangenheit geschehenen Handlung, unterworfen, vielmehr ist die Geschichte der Willkür des Erinnerungsaktes „in der vollständig aktuellen Gegenwart“ ausgeliefert, sie entwirft sich als Erinnertes. Die abstrakten Kategorien der Vergangenheit und Gegenwart, werden auf ihren Affektgehalt zurückgeführt, auf Vergänglichkeit und Gegenwärtigkeit.
Die Trilogie aus den Filmen NORMALSATZ (1978-81), DIE BASIS DES MAKE-UP (1979-84) und DIE WIESE DER SACHEN (1974-87) ist eben in diesem Sinne ein Work in Progress, das weniger eine Geschichte fortschreibt, als vielmehr umschreibt. So taucht in DIE BASIS DES MAKE-UP Material auf, das während der Dreharbeiten zu NORMALSATZ belichtet wurde, DIE WIESE DER SACHEN enthält Material das gar seit Mitte der siebziger Jahre entstanden ist. Aus diesem Grund ist es auch kaum möglich, von Dreharbeiten zu einem bestimmten Film zu sprechen. Nicht welche Bilder eine vergangene Geschichte erzählen können ist von Bedeutung, sondern welche gegenwärtige Geschichte die Bilder selbst zu erzählen in der Lage sind.
In NORMALSATZ, der den Ausgangspunkt bildet, handelt es sich noch um die Gegenwart eines Tages, in DIE BASIS DES MAKE-UP, der auch genau datiert ist, berichtet der Protagonist (John Erdman), schon von der Vergangenheit: „Ich erinnere mich genau. Damals sahen wir noch richtig fern. Ein mehr öffentliches Programm. Endlose Soaps über einen Mercedeshändler, der von achtzehn Engeln, die vom Him-mel kommen, umgebracht wird. In Clonetown, einem kleinen, in der Vergangenheit verlorenen Dorf. Wie schön war damals noch die Illusion der Gesellschaft.“ Dazu sind auf einem Fernsehbildschirm Aufnahmen zu sehen, auf denen die Personen aus NORMALSATZ zu sehen sind. NORMALSATZ, der in seiner eigenen Soap geendet hatte, wird dementsprechend als Fernsehprogramm erinnert. Während die Bilder Wiedererkennbares aus der Vergangenheit vorführen, lassen sich die Bemerkungen Erdmans zu der Geschichte, der sie entstammen, nicht eindeutig einordnen. Aus der Stadt Brookburg ist Clonetown geworden, und von einem Mercedeshändler war bis dahin nie die Rede. Zudem enthält die Stimme, auch wenn sie sich auf die Vergangenheit bezieht, bereits etwas Projektives, auf die Zukunft Gerichtetes: Der Ort von DIE WIESE DER SACHEN wird mit Clonetown angegeben werden, und eine Telefonstimme, wird über die Entführung von Mercedeshändlern berichten. So gibt es in den Filmen der Trilogie statt linearer Entwicklung eines Handlungsstranges ein nicht überschaubares System von Verzweigungen, die sich nicht allein im Raum, sondern vor allem in der Zeit erstrecken, wie in dem „chaotischen Roman“ des Ts‘ui Pên, von dem der Erzähler bei Borges berichtet:
„Die Wendung 'verschiedenen Zukünften (nicht allen)' brachte mich auf das Bild der Verzweigungen in der Zeit, nicht im Raum. Die abermalige Gesamtlektüre des Werks hat diese Theorie bestätigt. in allen Fiktionen entscheidet sich ein Mensch angesichts verschiedener Möglichkeiten für eine und eliminiert die anderen; im Werk des schier unentwirrbaren Ts‘ui Pên entscheidet er sich - gleichzeitig - für alle. Er erschafft so verschiedene Zukünfte, verschiedene Zeiten, die ebenfalls auswuchern und sich verzweigen. Daher die Widersprüche im Roman.” (Jorge Luís Borges, Der Garten der Pfade, die sich verzweigen).
In der ersten Einstellung aus DIE WIESE DER SACHEN sieht man eine männliche Person, gespielt von Eckhard Rhode, einen Pappkarton mit Scherben eines zerbrochenen Spiegels eine Treppe hinauftragen. In den Schichten der Vergangen-heit ist er ein Alter Ego des gespaltenen Protagonisten aus NORMALSATZ und DIE BASIS DES MAKE-UP, in den Gegenwartsschichten der Bilder, der Sohn des ehemaligen Teppichhändlers und Terroristen. Die Einstellung beginnt in einer Aufsicht aus der Halbnahen und ist mit bewegter Kamera gedreht, die sich nicht auf die Person, sondern allein auf den Karton konzentriert. Es folgt ein Schnitt auf Hände, die immer noch die scheinbar wahllos im Karton gehäuften Scherben wie im Puzzlespiel gegeneinander verschieben. Die Suche nach der Vergangenheit beginnt. Über dieses Bild wird der Titel projiziert. Der Spiegel, die machtvolle Metapher für das Sehen und Gesehen-Werden, der stets dazu herausgefordert hat, das Sehen zu reflektieren und zu distanzieren, ist zerbrochen. Wie die Scherben im Karton, so sind auch die einzelnen Szenen aus einem ordnenden Zusammenhang gerissen, bisweilen in Einzelbilder atomisiert. Allein das erinnernde Bewußtsein hält sie zusammen und die dafür in den Dienst genommene Stimme hat dafür natürlich den Preis zu zahlen: das Leben. So wird die Suche nach der Vergangenheit, „wie es war“, von zwei Seiten her angegangen. Eckard Rhode, dem Sohn, muß es dabei von vornherein verwehrt bleiben, die Zusammenhänge zu entschlüsseln. Nicht nur, daß er die Scherben niemals zu einem Ganzen wird ordnen können, vielmehr würde er in dem zusammengesetzten Spiegel nichts als sein eigenes Antlitz, seine eigene Geschichte als tautologisches Konstrukt erkennen. Denn das Ich ist immer nur das Bindemittel unter dessen Zutat Erinnerung zum Lebenslauf gerinnt.
Der Spiegel ist zersprungen, die Verbindung der Fragmente zu einem totalisierenden Ganzen gerissen. Die Stimme, die aus dem Telefonhörer kommt, will niemand mehr hören. „Ach du bist’s. Warte mal, ja. Ich komm’ sofort zurück“, sagt der Angerufene, der den Hörer neben dem Telefon ablegt, um dann zu verschwinden. Aber ob jemand zuhört oder nicht, scheint der körperlosen Stimme egal zu sein. Darüber hinaus erfährt man, daß die Stimme, die zu hören ist, die eines Toten ist, verstorben am 9. Oktober 1979.
Das Telefon, auch eine Art Raum- oder Zeitmaschine wie der Kühlschrank und selbstredend der Film, steht am Beginn einer Reise in die ”Räume der Vergangenheit” (DIE WIESE DER SACHEN). Radikaler noch, als in NORMALSATZ, werden Ton- und Bildräume konjugiert, multipliziert, all das, was sich über die Jahre in den entlegensten Gehirnwindungen abgelagert hat, in die Welt projiziert. In diesem Sinne ist DIE WIESE DER SACHEN kein Portrait der Vergangenheit, sondern eines des erinnernden Bewußtseins und die Stimme nicht das Subjekt der Erinnerung, sondern lediglich ein Element dieses Bewußtseins. Die Stimme des Toten am anderen Ende der Telefonleitung klingt seltsam apathisch wie unter Drogeneinfluß, der bekanntlich auch das Zeit-empfinden aus seinen gewohnten Bahnen werfen kann. Der Klang fungiert hier gewissermaßen als Indiz für die anderen Zeit-Räume, aus denen sie spricht. Auch wenn der Ort am Ende des Films lakonisch als Vancouver ausgegeben wird, ist nicht zu vergessen, daß es sich hier gleichwohl um die Stimme des Fälschens handelt. „Ich hätte diese Geschichte gern verhindert. Aber sie hat sich so zugetragen. Es war Anfang August 1974. Das neue World Trade Center hatte um sich herum ein Überangebot an Büroraum erzeugt. Und genau in dieses Vakuum zogen wir ein.“ Dazu Bilder von menschenleeren, hohen Räumen. Zuerst gibt es ein farbiges Bild von einem langgestreckten Flur, wie er in Büro- oder Hochhäusern zu finden ist. Aus der Tiefe dringt ein grelles Gegenlicht durch ein Fenster, das von den Wänden links und rechts, sowie vom Boden reflektiert wird und die Bilddurchzeichnung der Aufnahme ausbrennt. Die großen Flächen der Lichtreflexe an Wänden und am Boden sind dem Fenster am Ende des Ganges aufgrund ihrer Intensität derart ähnlich, dass eine Unterscheidung zwischen Lichtquelle und Relfektionsflächen nur über ein Wissen um die optisch-physikalischen Gesetze rekonstruierbar ist. Das Licht fällt nicht eigentlich auf die Szene, sondern ist in ihr. Der Bildkontrast ist so stark, dass der perspektivische Raumeindruck nahezu aufgehoben ist und die sichtbaren Gegenstände zurückverwandelt sind in das, was sie auf dem fotografischen Bild zuallererst sind: Sichtbarkeiten, hervorgezerrt durch die Spuren des Lichts. Die Mitte des Bildes ist von großen Lichtflecken gefüllt, die nichts als Helligkeit erkennen lassen, das Bildzentrum entleeren, ein Vakuum in ihm erzeugen.
Daß die Ereignisse, von je unterschiedlichen Stand-punkten aus betrachtet auch in einem je anderen Licht erscheinen, ist in den Filmen der Trilogie buchstäblich ins Bild gesetzt. Die Farben, vor allem das häufig auftauchende Rot, das am Ende, wenn Eckhard Rhode in dem Buch mit den Teppichmustern blättert, auf das gesamte Bildfeld übergreift, tränken die Bilder mit Stofflichkeit, die Lichter zehren an ihr. Die Langzeitaufnahmen verflüchtigen die Personen zu bloßen Schattenbildern, deren Existenz im Auftau-chen und Verschwinden, als eine zeitliche beschrieben wird. Daß hier Anwesenheit und Abwesenheit nicht länger zwei einander ausschließende Größen sind, verweist auf eine vom herkömmlichen Zeitverständnis verschiedene Form. Zeit ist in ihrem Verhältnis zu den Körpern und Dingen kein Rahmen, in dem sie gefangen wären. Vielmehr sind sie von ihr untrennbar, mit ihr durchsetzt, ihr ausgeliefert. Sie existieren nicht in der Zeit, sondern sind selbst diese Zeit. Die Autonomie der Bilder, die dem Diskurs der Stimme sich nicht mehr unterordnen, die diese Stimme allerhöchstens noch zu streifen vermag, verwandelt die Erinnerung in ein entpersonalisiertes Bewußtsein. Sie ist somit eher ein Affekt, der sich von den Handlungen abgespalten hat, die ihm vormals einen Halt gaben.
„Die Räume der Vergangenheit. Darin: unsere Geister“, sagt die Stimme. Die Langzeitbeobachtungen von Körpern, Gegenständen und Lichtverhältnissen in Räumen, die mal kontinuierlich gleitend, wie der Zug der Wolken zu Beginn von DIE BASIS DES MAKE-UP oder die über einen Tag sich wandelnden Schatten auf Hausfassaden, mal stotternd und sprunghaft auftauchen wie die sich in Räumen verschiebenden Gegenstände und Körper, zeigen deutlich, daß hier Bewegung und Veränderung nicht allein in der Zeit stattfinden, sondern durch die Zeit. Die häufig auftauchenden Langzeitaufnahmen raffen daher die Zeit im Grunde nicht, da es keine homogene und chronologische Zeitvorstellung gibt, auf die sie sich beziehen könnten. Es handelt sich nicht um die geraffte Form einer homogenen und allgemein gültigen Zeit, sondern um verschiedene Zeitqualitäten. Die geraffte Zeit ist die Zeit der Erinnerung, ihre Dauer.
Statt daß die Figuren Handlungen oder Bewegungen beschrieben, in der Zeit und im Raum agierten, ist es in den Spielfilmen genau umgekehrt. Die Bewegungen und die Zeit als Dauer beschreiben die Figuren. Die Bilder entspringen keinem individuellen Bewußtsein, das als deren Quelle angesehen werden müßte, vielmehr konstituiert sich dieses Bewußtsein in der Verzeitlichung und Bewegung der Bilder und Töne. Die Stimme des Verstorbenen aus DIE WIESE DER SACHEN repräsentiert demnach auch kein einheitliches, erinnerndes Subjekt, sie bildet lediglich ein Element eines umfassenderen Bewußtseins, das der Film konstituiert. Das akustische Off ist in den Filmen seit NORMALSATZ kein umschließendes Äußeres, sondern eine Differenzierung, eine Phasenverschiebung im Innern der Bilder. Die nicht-synchronen Töne und Wörter zirkulieren in den Bildern und bilden ständig neue Konstellationen. Wie auch jene Stimme in NORMALSATZ, die mit einer Drehung am Schalter des Was-serboilers verstummt, oder die Musik des Liedes ”Deep Purple“ im selben Film, die ihren Weg von einem Fernseh-gerät, durch die Straßen Brookburgs, bis in einen Kasset-tenrecorder findet. Die Lokalisierungen und Identifikatio-nen sind, wie die Geschichte selbst, stets an ein „Nachher” gebunden, das in den Filmen nur als vorläufiges vorkommt, sich stets aufs neue differenziert und somit ein Labyrinth von möglichen Beziehungen etabliert. Daß nur einige dieser Beziehungen explizit werden, tut der virtuellen Unabschließbarkeit der möglichen Beziehungen keinen Abbruch.
„Ich bin nie dort, wo und woraus das Bild entsteht, weil ich immer dorthin unterwegs bin. Das Bild ist auf einer anderen Linie dorthin unterwegs, als das, was ich meinen 'Körper', mein 'Bewußtsein', meine 'Erinnerung' nenne. Es ist so unterwegs, daß es das, was ich in Körper, Bewußtsein, Erinnerung, Vergessen unterteile, so zusammenfaßt, daß ich sein Dorthin nur dann erkenne, wenn ich Teile von ihm unter dem Aspekt des Körpers oder des Bewußtseins oder der Erinnerung oder des Vergessens buchstabiere, aber dann sehe ich nicht mehr das Bild als Feld, Raum einer ungebrochenen Bewegung, so gebrochen das Bild sein mag, sondern ich buchstabiere Teile meines Körpers, meines Bewußtseins, meiner Erinnerung, meines Vergessens; (...).” (Theo Kneublüher, Denklage des Sehens).
Die Suche nach der Vergangenheit, der Weg, der im Geflecht von Erinnerung und Vergessen zurückgelegt wird ist nicht Mittel, sondern eigentlicher Zweck. Die Ereignisse der Vergangenheit liegen ungeordnet vor wie die Scherben in der Kiste aus DIE WIESE DER SACHEN. Während der Langzeitaufnahmen gibt es einen Zwischenschnitt auf Eckhard Rhode, der auf einem Dachboden voller Gerümpel große Blechbuchstaben hervorkramt. Auf der Tonspur waren bereits die vom Wühlen in den außer Gebrauch gekommenen und auf dem Dachboden verstauten Gegenständen verursachten Geräusche zu hören. „Die Asche vergangener Möbel“, sagt die Stimme. Wenn das Bild wieder zu den Langzeitbeobachtungen zurückspringt, bleiben die metallenen Geräusche auf der Tonspur erhalten. Die Stimme kramt in den Erinnerungen, wie Eckard Rhode in den zurückgebliebenen Gegenständen auf dem Dachboden. Und so wie er einige Teile hervorzieht, ohne daß eine Finalität der Handlung deutlich würde, werden auf dem Bild im Fluß des Zeitlaufs die Schemen von Personen, Möbeln und Zimmern erkennbar, ohne sich zu einem geschlossenen Ganzen zu gruppieren.
Statt Bildern aus der Vergangenheit sehen wir „reale Spuren von Abwesenheit“ (Frieda Grafe), wenn die Aufnahmen von Eckhard Rhode, der aus dem Gerümpel Blechbuchstaben hervorzerrt, zunächst als Negativ auftauchen. Wie das Vergessen das Komplement der Erinnerung ist, ihr nicht als Gegenteil gegenübersteht, so haben auch die Bilder zwei Seiten. Es sind Bilder der Erinnerung und des Vergessens. Die Erinnerung nicht von ihrem Inhalt, sondern von ihrem Wesen her zu denken, bedeutet sie aus ihrem dichotomischen Verhältnis zum Vergessen zu befreien, beide als Teile ein und derselben Bewegung, die das Bewußtsein ausmacht, zu fassen. Die Erinnerung ist nur der Abdruck, den das Vergessen zurückläßt.