Die Wiese der Sachen: Seite 3 von 5

Andreas Corper Hans Hurch

Strahlende Blicke

HANS HURCH: Die drei Filme, die jetzt in Wien gezeigt werden, markieren wesentliche Momente in der Entwicklung Ihrer Arbeit. Da ist zuerst die rein strukturell in Einzelbildern komponierte Landschaft von SCHENEC-TADY III (1972/ 75). Dann folgt HOTEL (1975/76), ein Film in dem kleine Handlungsfragmente und Bewegungsabläufe bearbeitet werden. Und schließlich DIE WIESE DER SACHEN (1974/87), ein Langfilm, der, wenn auch auf sehr eigenwillige Weise, eine Geschichte erzählt. Oder so tut, als würde er eine Geschichte erzählen. Wie hat sich diese Entwicklung vollzogen?

HEINZ EMIGHOLZ: Es fing damit an, daß ich mit „Film“ überhaupt nicht klargekommen bin. Die filmische Abbildung, der Realismus im Film, das, was da Zeit und Bewegung repräsentiert, hat mich als Betrachter nahezu verrückt gemacht. Und meine ersten Arbeiten waren wie eine Medizin dagegen - um mich zu beruhigen. Film hat mich verrückt gemacht und war gleichzeitig selbst die einzige Möglichkeit, zu analysieren, was die Parameter dieser Bewegung sind, wie sie sich zusammensetzt, wie Abbildung entsteht. SCHENEC-TADY war sozusagen die große Oper darüber, der rigorose Versuch, alle Möglichkeiten der filmischen Bewegung erstmal selbst zu erfinden. Das sind alles Einzelbilder, und daraus wurden verschiedene Bewegungsmöglichkeiten komponiert, die sich dann gegenseitig durchdringen, über Brennweiten, 360 Grad, die Bewegung auf der Achse in den Raum hinein. Aber diese Filme, diese schnellen Bildfolgen sind zugleich irgendwie des Teufels, weil sie völlig abstrakt eine Komposition über die Dinge legen. Da steckt eine große Energie drin, auf die ich damals süchtig war, aber es ist eine im musikalischen Sinne abstrakte Energie, die eben nichts zu tun hat mit der Abbildung von Welt, sondern mit einer bestimmten Wirkung, die man erzeugt. Und irgendwann wird das zu einer kleinen Höllenmaschine.
Dann gab es den Übergang zu HOTEL. Das Material ist entstanden während meiner Zeit in Amerika. Ich ging eines Tages in San Diego die Straße entlang, hatte eine Super-8-Kamera dabei, und vor mir gingen diese beiden Personen. Ich hielt die Kamera in halber Höhe, nahe an der Hauswand, und machte, ohne durchzugucken, eine Aufnahme dieser Gehenden. Dann habe ich mir das am Projektor angesehen, und ich hatte plötzlich das Gefühl, daß ich das genau so sehen wollte, wie es sich ereignet hatte - bis in die Komposition des Bildes hinein. Ich habe das dann mit anderen Aufnahmen kombiniert, es bearbeitet, Positiv und Negativ zusammengeprintet, am Schluß die Bewegung umgekehrt und das Ganze so ineinandergefügt, daß zwei Personen zugleich von A nach B und von B nach A gehen. Die ersten Filme be-ruhten auf der „filmischen“ Bewegung, und HOTEL, das ist der Übergang in die Realbewegung.

HANS HURCH: Sie haben über die Jahre hinweg eine Menge Super-8-Material aufgenommen. „Langzeitbeobachtungen von Dingen und Räumen im unterschiedlichen Licht der Städte“, wie Sie das genannt haben. „Eine kleine Enzyklo-pädie des Alltags: Wohnen, Essen, Schlafen, Räume, Straßen, Verkehr.“ Das gesammelte Material wurde dann auf 16 mm aufgeblasen und an der optischen Bank bearbeitet. Diese gespenstisch verdichteten Passagen durch Zeit und Raum tauchen schließlich in den Filmen NORMALSATZ (1978/81) und DIE WIESE DER SACHEN wieder auf.

HEINZ EMIGHOLZ: Das Material ist wunderschön. Man sitzt davor wie vor einem Bild. Es ist ein visuelles Ereignis für sich und wäre fast schon ein eigener Film. Aber das hat mir nicht gereicht. Ich wollte das Ganze in einen Zusammenhang bringen, der zugleich etwas anderes erzählt und der sich außerordentlich grob gegenüber diesem Material verhält, also einen Kontrapunkt setzt. In NORMALSATZ fand ich keinen Platz dafür, aber bei DIE WIESE DER SACHEN wurde es zum Herzstück des Films. Ich wollte das Material einer Einsicht ausliefern, die alles noch einmal vom Ende her erzählt und sagt: „So war’s nun mal.“ Denn das ist ja die Macht des Erzählers, zu sagen: „So war es.“

HANS HURCH: Der Erzähler in DIE WIESE DER SACHEN ist eine Stimme am Telefon, eine Stimme aus dem Jenseits. Er ist ein abgesprungener Terrorist, der nichts mehr mit seinen Freunden zu tun haben will. Er sitzt in einem Hotelzimmer in Vancouver, nimmt Opium und erfindet Märchen.

HEINZ EMIGHOLZ: Im Grunde ist das eine Parodie. Der Erzähler ist tot, und man kann ja auch nur erzählen, wenn man tot ist. Das ist ja der Witz: Die Geschichten kommen zustande, wenn die Ereignisse tot sind. Das Lebendige kommt als Kunstprodukt erst zustande, wenn es tot ist.

HANS HURCH: DIE WIESE DER SACHEN erinnert manchmal an einen Vampirfilm, was wohl von diesen Schatten und Gespenstern herrührt, die durch die Räume ziehen wie durch ein verwunschenes Haus.

HEINZ EMIGHOLZ: Das ist ein Effekt, der durch den Aufnahmeprozeß entsteht, weil ja bei einer Langzeitbelichtung alles, was sich bewegt, verwischt und verschwindet, während alle Sachen sichtbar bleiben, die auf der Stelle stehenbleiben. Es ist wie bei alten Fotografien mit langer Belichtung: Wenn man sich solche Bilder aus dem vorigen Jahrhundert anguckt, tut sich ein realer Raum auf, der voll ist mit Geistern. Ich finde, das hat etwas sehr Bewegendes: Du siehst plötzlich Geister in ihrer täglichen Umgebung, schließst aus deiner Situation auf ein Vergangenes und erlebst, wie Geschichte vor den eigenen Augen zerfällt.

HANS HURCH: Mit der Trilogie NORMALSATZ, DIE BASIS DES MAKE-UP und DIE WIESE DER SACHEN haben Sie sich zwischen alle Sessel einer möglichen Zuordnung gesetzt. Das ist kein klassisches erzählerisches Kino, hat aber doch viele narrative Elemente und inszenierte Spielszenen. Auf der anderen Seite gehört das nicht mehr zum reinen Avantgardefilm, obwohl es auch viele Momente von ihm wieder aufnimmt.

HEINZ EMIGHOLZ: Mit NORMALSATZ kam bei mir der große Bruch mit dem „Avantgarde“-Film. Viele Leute, die meine früheren Arbeiten geschätzt haben, mochten das nicht, weil es in einen psychologischen Bereich hineinging. Mit DIE BASIS DES MAKE-UP ist das dann noch weiter abgedriftet. Und zugleich wurde dieses verquast Deutsche und nahezu Norddeutsche, was in den neuen Arbeiten drinsteckt, immer ausgeprägter. Vielleicht ist damit eine bestimmte Internationalität verschwunden, oder negativ gesagt: das rein Visuelle und Unverbindliche. Die Filme sind eigentlich aus sich heraus entstanden, wie organische Teile, die in einem Prozeß zusammenwuchsen, ohne daß dahinter eine große Absicht stand. Die Idee war, sich dem gesammelten Material auszusetzen und danach zu suchen, was denn da eigentlich erzählt wird, auch ohne daß ich es als Macher intendiert oder überhaupt mitgekriegt habe. So eine Szene liegt manchmal zehn Jahre zurück, und plötzlich kann man mit ihr etwas anfangen.

HANS HURCH: Eine Voraussetzung Ihrer Arbeitsweise ist, daß sie immer selbst für die Kamera verantwortlich sind. Sie haben einmal erwähnt, Bildermachen sei wie Denken, und das überläßt man besser auch nicht den anderen.

HEINZ EMIGHOLZ: Ja, denn durch diese minimalen Verschiebungen des Kamerawinkels oder der Bildfläche, die du siehst, also durch die Arbeit der Fotografie, bringst du die Welt überhaupt erst zusammen. Dadurch verdichtet sich erst, wie du den Raum spürst, in welchem Verhältnis die Dinge zueinander stehen, wie du die Nasenspitze im Vordergrund mit einer Schublade im Hintergrund zusammenbringst. Das ist im Grunde alles sogenannter Inhalt, und ich kann mir nicht vorstellen, daß mir jemand diese Arbeit abnimmt.

HANS HURCH: Sie nennen Kameraarbeit eine „Projektion von Blicken“ oder eine „mit Hilfe der Dinge in die Welt gespiegelte Entscheidung des Blicks“.

HEINZ EMIGHOLZ: Ja, das ist ja genau, was stattfindet. Es ist eine aktive Tätigkeit. Ich mache das auch, wenn ich zeichne: Man guckt die Zeichnung aufs Papier. Und wenn ich drehe, habe ich eine bestimmte Materialität vor mir und baue den Raum im Sehen. Ich glaube, durch die Kamera zu schauen, ein Bild zu gestalten, das hat sehr viel mit Architektur zu tun. Nehmen wir diesen Raum,. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, davon eine Aufnahme zu machen. Wie kommt es, daß ich sofort hingehen könnte und sagen: „Dieser Ausschnitt ist es!“? Der narrative Film bezieht sich auf die Vorstellung einer Vertikal/Horizontal-Fotografie, ausgerichtet an den Gesetzen der Schwerkraft. Damit wiederum hängen bestimmte Anschlußregeln zusammen, wie Bilder zu verbinden seien, um die Illusion eines Raum/Zeit-Kontinuums zu erzeugen. Wenn ich jetzt aber anders in den Raum hineinfotografiere, strahlenförmig, ohne die Achse an der Schwerkraft, also Rahmen und Horizont, zu orientieren, kann ich Dinge zusammenschneiden, die sonst nicht zu verbinden wären. All diese komischen Gesetzmäßigkeiten gehen den Bach runter, und es wird sehr interessant.

HANS HURCH: Wie schaut das in diesem Fall aus? Wie nehmen Sie ein Bild auf, wie bauen Sie eine Szene?

HEINZ EMIGHOLZ: Wenn ich eine Szene drehe, versuche ich mich mit der Kamera in sie hineinzuschrauben. Sagen wir, da sind drei Personen an einem Tisch, dann habe ich das Gefühl, daß ich mich wie über die Windungen eines Schneckenhauses dem Zustand annähere, um den es geht. Es gibt da nicht den Master-Shot, der sowieso schon alles abdeckt, und dann einen Ranschnitt, damit es ein bißchen interessanter wird, wie im klassischen Spielfilm. Es hat eher mit dem Aufbau von Zellen zu tun, wie ich mir eine Szene erarbeite. Aber wenn das Einzelbild nicht richtig komponiert ist, wenn da irgendetwas nicht stimmt, dann hat man eben was im Film drin, das ihn, wie aus einer Zelle heraus, zerfrißt. Aber all das Gerede über „schräge Kamera und gekippte Bilder“ in meinen Filmen ist Blech. Es ist einfach ein Bild, das man sich anguckt, und man muß nicht gleich unruhig im Kinosessel herumrücken und versuchen, den Kopf schief zu halten.

HANS HURCH: Das ironische Motto, das über dieser Trilogie steht, heißt: „Jedes Jahrzehnt hat seinen eigenen Zugang zum Himmel“. Was wäre dieser Zugang gewesen?

HEINZ EMIGHOLZ: Das ist wieder so ein Witz auf die Geschichte. Für mich waren die 70er Jahre total verquast und ideologisch verbohrt. Ich bin froh, daß das vorbei ist. Diese Ekstase an Jugendlichkeit, wo man alles besonders ernst nahm und dachte, da ist alles passiert. Das ist der letzte Blödsinn. Da ist gar nichts passiert.

(aus: FALTER, Wien, November 1990)