Tide

Tide - EbbeTide

Der erste Teil von TIDE zeigt in 15 Minuten die Progression von Ebbe bis Flut. Der zweite, gleich lange Teil verfolgt die Verändereungen von Flut bis Ebbe. Die besondere Arbeit des Künstlers bestand in der Festlegung eines komplexen Aufnahme-Plans (Score), der genau beschrieben werden muss. Das Endergebnis ist eine mehrschichtige, fließende Filmhandlung, die einen linearen Zeitablauf nicht zeitlich linear darstellt, sondern aufeinanderfolgende Momente einander gleichzeitig gegenüberstellt.

Arthur Gordon Pym gewidmet

1974
16 mm, s/w, stumm,
33 Minuten (16 B/Sek.)

Regie, Konzept, Kamera, Schnitt, Produktion: Heinz Emigholz
Drehort: An der Rethebrücke, Freihafen Hamburg
Drehzeit: 6. und 7. August 1974
Filmverleih: Freunde der Deutschen Kinemathek
Videovertrieb: Filmgalerie 451

Uraufführung: Collective for Living Cinema, N.Y.C., 22. März 1975
Festival-Premiere: Berlinale, 6. Internationales Forum des Jungen Films, Berlin, Juni 1976

Tide - FlutVon einem Stativ aus erfasst die Kamera einen horizontalen Schwenkbereich von 180 Grad. Innerhalb dieser Halbkreis-Zone wurden 60 Einstellungsrichtungen, die um je 3 Winkelgrade voneinander abweichen, festgelegt. Die frontale Einstellung ist mit 0 bezeichnet; die Schwenkungen nach rechts tragen die Einstell-Bezeichnungen 0 bis +30, diejenigen nach links sind von 0 bis -30 markiert. Die von diesen Einstellungspunkten aufgenommenen Einzelbilder simulieren bei der Filmprojektion kontinuierlich und gleichförmig fortlaufende Schwenkbewegungen.

Im ersten Teil von Tide führt diese von 0 rechtsläufig über +10... bis +30 und wieder zurück über +10 bis 0. Dann schwenkt die Kamera nach links über -10... bis -30 und wieder zurück über -10 bis 0. Der zweite Teil zeigt zuerst die gleiche Linksschwenkung, dann die Rechtsschwenkung. Zu dem im Film sichtbaren Eindruck von Bewegung schreibt Emigholz: 'Alle im Film auftretenden Bewegungsformationen ergeben sich aus der linearen Projektion von nacheinander einzeln fotografierter Filmbilder, wobei impliziert ist, dass während des Aufnahmevorgangs zwischen der Aufnahme nacheinanderfolgender Filmbilder jeweils unterschiedlich viel Zeit verstrichen sein kann; das Ausmaß des jeweiligen Zeitverlustes kann manchmal anhand von Realbewegungen im Bildobjekt kontrolliert werden. Bei linearer Projektionsgeschwindigkeit bleiben Geschwindigkeit und Zeit eines ‘Durchgangs’ (d.h. der Bewegung von 0 bis +30, dann zurück bis 0 und weiter bis -30 und zurück bis 0) konstant, da in jedem Durchgang auf einer bestimmten Anzahl gleichmäßig verteilter Einstellungspunkte eine bestimmte Anzahl Einzelbilder fotografiert wurde.'

TideDer Gestaltung von TIDE liegt folgender Aufnahme-Plan zugrunde: Auf jedem Einstellungspunkt wurden zuerst zwei Einzelbilder aufgenommen. Bei der ersten Schwenkbewegung folgen sich die Einstellungen nach dem Schema 0/0,+1/+1,+2/+2...+30/+30, +29/+29 ... +1/+1. Beim Durchgang durch 0 trennen sich dann die Schwenk-Intervalle der beiden Einstellungs-Sequenzen, in dem die eine Sequenz dort einen Einstellungspunkt überspringt. Das Schema heißt nun -1/0,-2/-1... +30/+28,+29/+29,+28/+30, +27/+29 ...0/+2 - der Abstand zwischen den ehemals identischen Schwenk-Intervallen beträgt nach dem zweiten Durchgang also schon zwei Einstellungspunkte (6 Winkelgrade). Wenn dieser Aufnahme-Plan fortgesetzt wird, so folgt der 60. Durchgang dem Schema -1/+1, -2/+2,... -30/+30...
-1/+1. Das ist der Inhalt der beiden Teile von Tide, denn nur diese 60 Kombinationen erzeugen formal voneinander verschiedene Durchgänge. Die weiteren Durchgänge 60 bis 120 wiederholten im 'seitenverkehrten' Rückwärtsgang die Kombinationen der Durchgänge 1 bis 60, und der 121. Durchgang wäre identisch mit dem 1.

TideDer Film zeigt also eine Simulation zweier symmetrisch entgegengesetzter Schwenkbewegungen, die sich gleichzeitig wieder im Nullpunkt treffen. Aus einer kontinuierlichen, linearen Schwenkbewegung heraus hat sich im Verlauf des Films in einer stetig voranschreitenden Transformation das symmetrische Bewegungsnegativ, das bewegungsmäßige Spiegelbild aufgebaut. Gegenstand dieses Scores war die innere Analyse einer faktisch vorhandenen Filmform, womit der wiederholte lineare, zweiseitig gerichtete Kameraschwenk vom Stativ gemeint ist. Diese Filmform - mit 24 Bildern pro Sekunde 'realistisch' aufgenommen und projiziert - dient gewöhnlich dazu, einen linearen Zeitverlauf symbolisch zu repräsentieren. Die zentralperspektivische Organisation des von der Kamera gelieferten Bildes besorgt dabei ständig ein perspektivisches Zurechtrücken des Bildobjekts. Diese perspektivische Aufbereitung des Bildzentrums, die für sich allein schon inhaltsstiftende Sinnstruktur ist, bleibt jedoch durch die Illusion eines linearen Zeitkontinuums in Realzeitaufnahmen meistens verborgen, weil der Vergleich mit der zeitlich vorangegangenen Bildversion nicht mehr gezogen werden kann.

Tide Das in TIDE angewandte Verfahren der Aufsplitterung der einen linearen zeitlichen Bewegung in zwei simultan ablaufende verschiedene Stadien dieser Bewegung macht es möglich, die unterschiedlichsten perspektivischen Behandlungen des Bildobjekts durch die Stativkamera während eines Schwenkvorgangs miteinander in Beziehung zu setzen, da alle Partikel dieser Bewegung einmal mit allen anderen Partikeln im Durchgang des Scores kombiniert werden. Der Score entfaltet also u.a. die Möglichkeit der gleichzeitigen Anwesenheit des einen Objekts in verschiedenen Perspektiven, gemäß einer bestimmten Ordnung.
documenta 6 Katalog, Kassel 1977

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Kritiken

"Beautiful and often unusual images are produced by complicated shooting techniques. The differences in each case lie in the system of construction, which is the actual invention of the film and only has validity for a single work. Each film is closed in on itself and substantiated by itself: a cosmos."
Birgit Hein, STUDIO INTERNATIONAL, Januar 1976

„Wenn Emigholz in SCHENEC-TADY I zwei gegenläufige Horizontalschwenks nach mathematisch organisiertem Montageplan ineinanderflicht verwandelt sich Landschaft in pulsierenden Raum, wird das Filmbild gleichsam zu einem Feld kinetischer Energie, wird durch die Gleichzeitigkeit gegenläufiger Bewegung eine Art mehrdimensionales Sehen möglich.“
Kraft Wetzel, FAZ, 14. August 1976

„Seine frühen Filme zeigen Gleichzeitigkeiten von Räumen und deren Kombinationsmöglichkeiten. Die ersten heißen SCHENEC-TADY, was nach einem indianischen Idion so etwas wie eine schöne Aussicht verspricht. Man schaut aber nicht in eine Landschaft, die Landschaft schaut in den Kopf. Filmtechnik dient nicht mehr der Nachahmung eines Blicks, der herumschwenkt und souverän über das Wann, Wie und Wo entscheidet. Die Naturidylle wird als Blicksofa demontiert und das Neben- und Hintereinander der Raumeinheiten durchdekliniert, daß einem Wirklichkeit zu entfahren scheint. Eine Landschaft multipliziert sich technisch ohne das Ich als Schauplatz. Da wackelt der Blick und nicht der Wald, wenn die Dinge aufeinanderrücken und der Raum entgegenkommt ... Emigholz benutzt Technik nicht als Trick, vielmehr als Mittel gegen den Trick der Logik, die Dinge mit Ordnungsstrukturen zu überformen. Er läßt das Einzelbild intakt, um zu zeigen, daß Dauer nicht in Zeitpunkte zerlegbar ist, ohne zu verschwinden, und daß ein Wald nur die unendliche Möglichkeit ist, ihn zu sehen. Film ist keine Sprache, sondern ein Instrumentarium zur Dekomposition von Wirklichkeiten. Der Schock, der einen ereilt, besteht in einer Überdosis unvermittelter Bilder, die man nicht mehr verarbeiten kann, die auf einmal näher sind als die Wahrnehmung und schneller als die Gegenwart ..."
Lars Henrik Gass, BLIMP, Nr. 21, Januar 1992