AUTOBAHN, 4. Juli 2004.

Monolog eines Kameramannes. „Jedes technische Bildmedium popularisiert ein neues Verständnis oder Empfinden von Zeit und bildet damit einen neuen Pakt mit jenen drei Sekunden, die für uns subjektiv erfahrbare Gegenwart darstellen. Bildnerisch wird Zeit durch die Repräsentanz des Raumes konstruiert. Meist durch die Wiedergabe einer Bewegung darin, aber auch durch die Projektionen von Bewegung, die ein Betrachter anhand dieser raumbildenden Szenerien vornimmt.

Diese Konstruktion erzeugt Symbole. Der Grad, in dem sich diese Symbole von einer im Vorweg definierten Zeichenhaftigkeit lösen, und sich den immer neuen Oberflächen des Wirklichen verpflichtet fühlen, macht ihre Qualität aus. Einerseits also grundsätzliche Überlegungen zu einem Medium der Zeit, den Bildflächen, und dann die Qualität der Bilder, die uns tatsächlich berühren. Ist diese Berührung etwas Vorübergehendes, Ephemeres, oder prägt sie uns? Wie das Portrait eines geliebten Menschen eine Einheit von Körper und Geist, Oberfläche und Bewusstsein repräsentiert, wie sie ein "Außenstehender" nie wahrzunehmen vermag? Das Suchtbild des Gegenübers, die gewöhnliche Symbolisierung. Das Gesicht, das ein Gesicht einsaugt und aufsaugt. Seit Jahren habe ich beim Denken die Landschaften von Tar-Riefnu im Kopf, sie bilden dessen Background. Hier habe ich den Blick hingeworfen, dort ist er klebengeblieben. Die Far-away-eyes von Kirsten Dunst berühren mich mehr als die Blicke einer sozial engagierte Rollen spielenden Julia Roberts, die ihre Produktionsfirma verklagt, weil sie dabei nicht gut genug aussehe. Es fing Ende der Siebziger an, dass die Leute sich weigerten, Gedanken zu haben, geschweige denn, diese zu äußern, bevor sie nicht "Promis" waren, was sie als eine Art Plattform begriffen, von der aus es sich überhaupt erst lohne, zu agieren. Ein merkwürdige Rückkoppelung mit dem, was die Gesellschaft überhaupt noch imaginär zu bieten hatte. Man begann mit der eigenen Kinderstube zu kommunizieren, in der man Absolution durch Fernsehen empfangen hatte. Und nun standen diese frisch produzierten Katatoniker da, scharrten mit den Hinterfüßen und bestanden darauf, berühmt zu sein. Und jeder Einzelne noch für ein paar Minuten länger als alle anderen Einzelnen, die auch daran glaubten, was ihnen Warhol angekündigt hatte – ohne den möglicherweise vorhandenen Witz dieses erzreaktionären Versprechens zu spüren. Strategische Anwesenheit, entschlossene Abwesenheit – wundersam, die Errettung des Kopfes von innen. Das Leben als gestaltete Wiederholung, von Oberflächen, möchte man meinen, auf denen alles Innere zum Ausdruck kommt.
    
Jedenfalls, wenn man dieses als Gulasch begreift, das die Haut, die man Realität nennt, zu immer neuen Ausbeulungen verhilft. Wenn wir gemeinsam durch eine Landschaft rasen, und jeder Lidschlag der Abspeicherung eines bestimmten Anblicks dient und jede Dunkelphase zu dessen Vertiefung, wissen wir auch, dass unsere verschiedenen Gehirne nie das Gleiche erinnern werden, so sehr wir einander auch zugeneigt scheinen und uns das Erlebte erzählen. Erinnerungen trennen, machen einsam, spalten das einmal Gegenwärtige auf in die nie wieder erfahrbaren Schnittebenen der Einzelnen, jener Urwald einer in Facetten zerlegten Vergangenheit, die nur noch punktuell in den vereinzelten Gehirnen aufschimmert. In dieser Sphäre auf der Produktion eines Bildes zu bestehen, hat etwas zwanghaft Gemeines und zugleich etwas anrührend Hilfloses. Das Aufzeichnen eines Blicks ist ein Aufstand in die Sphäre des Individuums, eine ephemere Anstrengung, die den Verallgemeinerungen des Religiösen zu entgehen versucht. Wir wenden den tötenden Strahl des Bildes auf uns selbst an, und sind darin Experiment mit ungeklärtem Ausgang. Das heißt auch, dass das Töten in unserer Kultur ein Spiel wird, etwas vor uns Hingestelltes und in diesem Akt etwas Verdoppelndes, das der eigenen Realität zu entgehen versucht. Dieses Gezerre und Geschiebe erinnert an Komposition. An die Komposition von Flächen, ein logisch harmloses Spiel, das von vornherein in der Gewaltsphäre des realen Raums eine weiße Fahne schwenkt. Was ist Komposition im Gegensatz zu Konstruktion? Umsortieren von Objekten versus Gestaltung von Licht- und Blickrichtungen. Das in der Wirklichkeit des Blicks erlöste Gehirn. Die Anwesenheit des Gehirns im Raum zwischen den gestaffelten Objekten und dem flächigen, zukünftigen Bildträger, und dann der Abschied, das Erzittern und Erstarren vor der Grausamkeit der Zeit. Den Erben sei gesagt, daß sie die Handschrift als Grauwert – also als Farben in einem Bild - ansehen mögen. Wie bei allen Dingen geht es zuerst nicht um Inhalt, für den im Übrigen auch vielleicht gerade kein korrespondierendes Gehirn vorhanden sein mag. Es geht vor allen Dingen um Beziehungen, etwa denen zwischen Farben und Gehirn.“

(Heinz Emigholz, Das weiße Schamquadrat, aus: Camera Austria Nr. 87, 2004)