Zeichnung (30) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Kleine Enzyklopädie meiner Armbrüche: Als 11jähriger habe ich mir beim Sprung über ein Zelt den rechten Unterarm gebrochen. Der komplizierte Bruch wurde genagelt. Ich durfte monatelang nicht am Turnunterricht teilnehmen, den ich eh haßte. Viele Nazis, die nach dem Krieg von Deutsch- zu Turnlehrern degradiert worden  waren, wirkten dort weiter. Als 12jähriger fiel ich vom Fahrrad, erneuter Armbruch, also wieder Befreiung vom Sportunterricht. Als 13jähriger wurde ich von einem Fahrrad überfahren. Man ließ den gebrochenen Knochen samt verbogenem Silbernagel schief anwachsen. Als 14jähriger wurde mir die Elle künstlich gebrochen, um den Nagel zu entfernen und den Arm zu richten. Ich durfte weiter auf der Matte liegen und rauchte inzwischen Zigaretten. Quintessenz: Unbewußt herbeigeführte Armbrüche aus Angst vor Sport lehrenden Nazis, dazu suchterzeugende Erfahrungen mit der Ausschüttung körpereigener Opiate bei Knochenbrüchen. Daher auch das Opiumzelt." (Aus: arsenal, januar 09).

(1984) 

Zeichnung (31) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Mouches volantes vor zwei Fenstern der Bibliothek der State University of New York in Binghamton, 1974. Bei fast geschlossenen Pupillen, in großer Helligkeit, rückt die Oberfläche des Augapfels und die darauf oder im Glaskörper selbst schwimmenden oder schwebenden Kleinteile und ihre Schatten in die Erkennbarkeit. Das Sehen bezieht sich auf sich selbst, das Auge wird selbstreflexiv. Hermann von Helmholtz hat sie zuerst beschrieben. Ich saß im Max Reinhardt Archive und ekelte mich vor meiner Recherche. Und endlich Warum die Fackel nicht erscheint von Karl Kraus in Die Fackel Nr. 890-905 gelesen, Ende Juli 1934 auf 315 Seiten erschienen, der beste Aufsatz in deutscher Sprache, den ich je gelesen habe. Zuvor noch die vierseitige Die Fackel Nr. 888 mit Kraus' Rede am Grab von Adolf Loos vom 25. August 1933 und seinem Gedicht "Man frage nicht, was all die Zeit ich machte", das mit Häme zu überziehen, sich die journalistischen Zuarbeiter des Grauens nicht nehmen ließen. Und damit das Kapitel "Reinhardt" abgeschlossen." (Aus: arsenal, juli/august 2012).

(1974) 

Zeichnung (32) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Fortsetzung zu August 2012: Ich starrte also im Sommer 1974 in der Bibliothek der SUNY Binghamton an die Decke und versuchte, mir die mouches volantes aus den Augen zu wischen und die Frage zu beantworten, was an 'Prominenz' noch zu analysieren sei, nachdem sie Karl Krauss in Die Fackel Nr. 890 als nimmermüden Quell für Null-Nachrichten geoutet hatte: Unter der Überschrift 'Max Reinhardt der Zugkatastrophe entronnen' konnte man erfahren, dass Reinhardt zu Weihnachten 1933 bei Lagny in Frankreich 'beinahe' das Opfer einer Zugkatastrophe geworden wäre. 1993 gab der Publizist der Gruppe Frankie Goes To Hollywood die gebührende Antwort: Holly Johnson, der Sänger der Band, war 'nicht' bei dem Anschlag auf  Pan Am Flug 103 über Lockerbie ums Leben gekommen, weil er den Flug verpasst hatte. Das war ungefähr so sensationell lustig, wie wenn Westberliner Edelfedern mit hergesucht gedrechselten Petitessen und verschroben hintersinnigen Pretiösitäten eine Filmgeschichtsschreibung zu verfeinern suchten, die es gar nicht gibt." (Aus: arsenal, juli/august 2013).

(1974)

Zeichnung (33) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Krude Landschaften, Abbruchkanten und das Bewußtsein, darin eingesponnen zu sein und nicht mehr daraus zu erwachen. Die Atomisierung meiner Gefühle, aus der sich kein qualitativ neues Element ergibt, hat ihre Logik. Ein Flug zu den Filmfestspielen in Edinburgh (BORO) mit dem Film Normalsatz Anfang der 80er Jahre. Ich hatte schon einmal 1965 auf dem Felsen, von dem sich dort traditionell die verzweifelt Verliebten stürzen, gesessen und einen Personenzug bei seiner Einfahrt in einen Tunnel unter einem Friedhof beobachtet. Ganz anders als bei Hitchcock. Bevor sich die Welt in Zucker, Fett und Kohlehydrate aufspaltete, wie hier an einem Schokoriegel exemplifiziert. Ich dachte an David Larchers Fahrt in eine Autofalle auf Martinique und das Emblem seines Lastwagens als Stempelabdruck. In der Projektion zerriß die Filmkopie dann genau in der Szene, in der meine Super-8-Kamera umkippte. Ich rutschte von der Bank, schlug mit dem Gesicht voran zu Boden und krieche seitdem in Spurenelementen herum." (Aus: The End, Disko 22, 2011).

(1983) 

Zeichnung (34) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Die schwarze Garderobe. Im Closed-Circuit-TV ist das Abbild eines gerahmten Bildes an der Wand eines Zimmers am Eppendorf Marktplatz in Hamburg zu sehen, 1974, kurz vor meiner Abreise in die USA. Das Bild zeigt in Nahaufnahme ein Heftpflaster auf nackter Haut. Ein entschiedener Abgang in die Unentschiedenheit. Wer das eigene Opfer zu ernst nimmt, scheidet aus. Die drei Panoramen des Films Arrowplane - Wiese, Stadt und Strand - und ein zerschnittener Filmstreifen hängen an der Wand. Im Anschnitt zwei Leuchtkörper mit Stromkabeln. Diese Idylle wurde ergänzt durch das vom BKA veröffentliche Diagramm zum Hergang des Selbstmordes von Andreas Baader in seiner Stammheimer Zelle, das hier um eine Umdrehung seines Halses erweitert wurde. Der am Hinterkopf angesetzte Schuß bahnt sich, nachdem die Kugel von der inneren Schädeldecke, dem Kieferknochen und dem Gehörgang umgelenkt worden ist, durch die Augen der in der Hamburger Gänsemarkt-Passage mit den Füßen unter die Decke genagelten Gänse fort. Allen Verschwörungstheoretikern dieser Erde gewidmet." (Aus: Zeichnung oder Film, 2013).

(1984)

Zeichnung (35) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Eine weiße und eine graue Garderobengarnitur aus einem Prospekt für Billigmöbel. Eine Gedenkfeier für den 1959 mit dem Flugzeug abgestürzten Buddy Holly auf einem Sofa in Achim, 1964. Es kommt zu einer unverzeihlichen Straftat: Ich zerschlage zu seinem Song Rave On mit einem Fang-den-Ball-Spiel eine der drei nicht ersetzbaren Glastüten der Deckenlampe im Wohnzimmer unserer Nachbarn. Verlegen spielen wir Paare, die nicht funktionieren. Der schwere Schatten eines unbegriffenen Ursprungs legt sich über die Szenerie - oder sind es die Umrisse der Reste eines von Ameisen auf der Suche nach nahrhaftem Klebstoff abgefressenen Flaschenetiketts? In Latenz und transparent über allem: Der junge Mann mit den ausufernden Brustwarzen, der sich so aufreizend das Hemd über den Kopf zieht, aus der damaligen Werbung für ein Solarium. Daß sich Zeiten nachträglich materiell ineinanderschieben lassen, in der Voraussicht aber keine Materie bieten, ist der Nährboden für extrapolierenden Sarkasmus. Die Welt lässt sich tatsächlich als Satz erkennen und begreifen." (Aus: Zeichnung oder Film, 2013).

(1984) 

Zeichnung (36) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Text under construction"

I am the kitchen. 

(1983) 

Zeichnung (37) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"Der einbalsamiert aufgebahrte Leichnam Elvis Presleys zwischen einem Spalier kleiner Zehen. Statt 'Hide in the hall' verstand ich in seinem1960er Song Stuck On You: 'I am the wall'. So lernte man damals Englisch, trial and error beim Abhören der Hitparade des British Forces Network in Norddeutschland. Ich habe am Bahndamm gestanden, als Elvis 1958 mit dem Fliegenden Roland von Bremerhaven aus nach Süddeutschland transportiert wurde. Bill Wyman leistete gerade seinen Militärdienst in Oldenburg ab. Abdriftende Babybeine symbolisieren Elvis’ Seele. Ein Karussell mit toten Fischen an seinen Ketten drehte die Runden zu seinen Songs. In der 'Raupe' begannen die Jugendlichen zu knutschen. Ganz Wagemutige trugen hellblaue Seidenblousons mit einem eingestickten Tiger auf dem Rücken. Ich verliebte mich in einer jungen englischen Soldaten namens Storky, der bei uns hinter dem Bahndamm eine Militärübung ableisten mußte und in einem Kettenfahrzeug wohnte. Ich schenkte ihm Birnen aus dem Garten und bekam nichts dafür zurück." (Aus: arsenal, februar 19).

(1983) 

Zeichnung (601) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

"The World: ein Hosenstall. Transparent: der geschlossene Eingriff einer bügelfreien Anzughose. Liebe als Arbeit: ein hingehaltenes Schiffsmodell vor einem Paar, das in Missionarsstellung den Geschlechtsverkehr ausübt und vorher weder Lust noch Zeit hatte, sich die Anziehsachen auszuziehen. Die schwarzen Flächen waren Papierreste auf einem Polaroid-Negativ der Szenerie. RO ID = Das rohe Es, die Verabredung und das Einvernehmen, tierisch sein zu dürfen. Harvey Weinstein sollte zum Christentum übertreten, dann würde ihm alles vergeben werden. Seine Übergriffe waren jedem und jeder Filmschaffenden seit langem bekannt, auch ante delictum. Das journalistische Getue, das sich jetzt so plötzlich um seine miese Rolle rankt, trägt alle Ingredienzien für einen neuen McCarthyismus in sich. Einen Vorgeschmack davon konnte man bekommen, als auf dem Think:Film-Kongress 2012 der Film Traité de bave et d’éternité (1951) von Isidore Isou bei Andrea-Dworkin-Aficionados urplötzlich in Ungnade fiel." (Aus: arsenal, juni 18).

(1988)

Zeichnung (39) aus DIE BASIS DES MAKE-UP

Ein Ausflug in die norddeutsche Tiefebene, 1975. Neben einem Kornfeld bei Horneburg werfen wir einen aus einer Einfriedung herausgebrochenen Klinkerstein in eine Wasserpfütze und erklären uns die verschiedenen Geschwindigkeiten der Wolken, die sich darin spiegeln. Die entfernten Wolken sind klein und langsam, die nahen groß und schnell. Und das gilt sowohl horizontal als auch vertikal und definiert einen eigenen Standpunkt, den jede Fotografie, ob sie es will oder nicht, enthält. Silke Grossmann trägt einen schweren, hellbraunen Ledermantel. Ihr Schatten hat sich von ihr abgetrennt und denkt über dasselbe nach wie sie. Wir lebten damals neben dem vom Möchtegern-Nazi-Generalbauinspektor Fritz Höger erbauten Chilehaus in Hamburg und nahmen dessen norddeutschen Backstein-Expressionismus stoisch zur Kenntnis. Der Lebensweg des Malers Heinrich Vogeler war für uns von größerem Interesse, und die Analyse der Fotografie Versammlung für eine Demonstration (1928) von Alexander Rodchenko veränderte unser Leben für immer. (Aus: arsenal, juni 19).

(1975) 

Seiten