Streetscapes [Dialogue]

Streetscapes [Dialogue]

Spielfilm von Heinz Emigholz

D 2015-17, DCP, 132 Minuten, 5.1
Streetscapes – Kapitel III
Photographie und jenseits – Teil 26

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Regie: Heinz Emigholz
Buch: Heinz Emigholz, Zohar Rubinstein
Darsteller: John Erdman, Jonathan Perel, Natja Brunckhorst
Gebäude: Julio Vilamajó, Eladio Dieste, Arno Brandlhuber
Kamera, Schnitt: Heinz Emigholz, Till Beckmann
Kamera Assistenz: Manja Ebert, Nacho Rodríguez
Originalton: Rafael Álvarez, Rainer Gerlach, Markus Ruff
Tongestaltung: Christian Obermaier, Jochen Jezussek
Mischung: Jochen Jezussek
Postproduktion: Till Beckmann
Produktionsservice Uruguay: Micaela Solé, Cordón Films
Produktionsmanagement: Patricia Olveira, Markus Ruff
Produzenten: Frieder Schlaich, Irene von Alberti
Produziert von Filmgalerie 451

Gefördert von BKM, Medienboard Berlin-Brandenburg

Dank an Padre Antonio, Carlos Arakelián, William Rey Ashfield, Karla Atanasio, Federico Barrios, Ivonne Chapuis, Marcelo Corbo, Oscar Corlazzoli, Mario Couture, Leandro Deambrosi, Rodolfo Deambrosi, Padre Luis Díaz, Antonio Dieste, Padre Ernaldo, Martín Etcheverry, Jorge Garzón, Anja und Peter Golly, Herbert González, Juan Gruber, Magdalena Hudson, Nelson Inda, Margarita Irigoyen, Miguel Ángel Irrazabal, Víctor Jerez, Señora Leonor, Benjamín Liberoff, Señora Lourdes, Luis Martínez, Lilli Müller, Mónica Nieto, Dankwart Northe, Juan Pablo, Zuzanna Plech, Lukas Rinner, Irene Ross, Adrián Santos, Wilde Schenck, Peter Slowak, Hans Thalgott, Ignacio Varela
und Alfa Chauffeur-Service Montevideo, Botschaft der Republik Östlich des Uruguay in der BRD, Casa Golly, Colier S.A., Comisión del Patrimonio Cultural de la Nación Uruguay, CYD Ingenieros, Depósito Saltorrevieja, Facultad Ingeniería Montevideo, Fundación Don Pedro, Gimnasio don Bosco, Iglesia Atlántida, Iglesia Malvín, Iglesia San Pedro Durazno, Ministerio de Turismo Uruguay, Montevideo Shopping, Museo Vilamajó, Puerto Nueva Palmira, Timac Agro Uruguay

www.pym.de
www.filmgalerie451.de

Copyright 2017 by Filmgalerie 451 und Heinz Emigholz

Synopsis

Es gibt Straßen, Pfade, Autobahnen, Gassen, Boulevards und Promenaden. Und es gibt Lebenswege, Kreuzungen und Sackgassen. Zwei Männer sitzen auf der schattigen Empore eines Backsteingebäudes irgendwo in Montevideo. Sie sind in einen Gesprächsmarathon vertieft, der den ganzen Film über nicht abreißt. Der jüngere der beiden ist Analytiker, der ältere Mann ist sein Analysand. Ihre Nationalitäten sind unklar, sie sprechen ein einfaches, international verständliches Englisch. Sie reden über eine Kindheit zwischen den Ruinen und den traumatisierten Menschen Deutschlands kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, übers Fliehen, über eine besessene Beschäftigung mit Architektur und über manisches Schreiben. Und sie sprechen über die Arbeit mit der Filmkamera, die für den jungen Analytiker ein technisches Instrument ist, für den alten Regisseur aber ein Rettungsanker. Ausgangspunkt des sechstägigen Marathons ist die psychische und physische Blockade, die ihn daran hindert, einen letzten großen Film zu beginnen, die Streetscapes Saga. Das Gespräch, das in einem langsamen Prozess die Blockade des Regisseurs auflöst, findet an wechselnden Orten in extremen Architekturen statt. Die Kamera, die die beiden porträtiert und zu den Architekturen in Beziehung setzt, wird zu einem dritten Partner. Immer wieder löst sie sich vom Ort des Geschehens und erkundet die Straßen und Nachbarschaften der Umgebung, bevor sie zu den beiden Protagonisten zurückkehrt. Die Schalenbauten des urugayanischen Baumeisters Eliado Dieste, in denen sie sich aufhalten, ähneln gigantischen Hirnschalen und geben so dem Ort und dem Thema des Projektes einen Rahmen, das sich im Laufe ihres Gespräches herausschält: Trauma und Architektur.

Standbilder aus Streetscapes [Dialogue]:

Aus dem Exposé zum Projekt Streetscapes

In meinen Filmen zum Werk bestimmter Architekten oder zu einzelnen Bauwerken spielten mehr und mehr die Landschaften, in denen wir sie vorfanden, und die Straßen, Kreuzungen und Städte, an und in denen sie erbaut sind, eine bestimmende Rolle. Wir haben an berühmten Straßen in bekannten Städten gedreht, an der Route 66 in Tulsa, Oklahoma, am Wilshire Boulevard in Los Angeles, am Graben in Wien, am Monroe Drive in Chicago, an der Via Appia südlich von Rom, am Boulevard de l’ALN in Algiers, am Place d’Iéna in Paris, an der Rustaveli Avenue in Tiflis und vielen anderen - ohne die Straßen zu benennen. Und wir haben in den Nebenstraßen und Sackgassen verlassener Nester wie Boise City, Oklahoma, oder in Megacities wie Mexico City gedreht - ohne die Straßen zu benennen. Die Gebäude waren uns wichtig als Verdichtungen von Realität, aber unsere Blicke sind schon immer ausgeschweift, an das Ende der Straßen oder haben sich an Straßenkreuzungen, Planzenensembles und Landschaften festgesetzt, die nicht unmittelbar zum Thema gehörten.

Wuchernde und notgedrungen anonyme Gestaltungsensembles wurden mehr zu mehr zu meinem Thema. Durch Reduktion auf eine autoriale Architektur ist für mich das Ganze unserer Realität nicht mehr zu beschreiben oder darzustellen. Vielmehr wird es immer notwendiger, eine anonyme Situation zu beschreiben, die zwar in all ihren Einzelheiten mit den Insignien einer Autorenschaft versehen ist, deren vielteiliger Gestaltungswille aber angesichts des Ganzen und seiner Zusammenhänge nahezu tragisch zu nennen ist. Der einzelne Gestalter beginnt, sich inmitten dieser Ensembles wie im Mythos als Sisyphos zu empfinden.

Die Textur des Wirklichen besitzt für unsere Augen zu jeder gegebenen Zeit und in jedem gegebenen Wetter den Anschein eines Kontinuums. Dieses Kontinuum kann die Kamera in der einzelnen Einstellung in erhellender oder vernebelnder Absicht gestalten, aufspalten kann sie es nicht. Das Off der Absichten und Bedeutungen wird immer wieder ins Bildfeld geraten. Erst mit dem Schnitt springt die Zeitmaschine Film in das nächstmögliche Kontinuum, das seine Oberflächen ebenso verschlossen hält, wie das vorangegangene Bild. Aber die Auslassungen, die jeder Schnitt oder postproduktions-technische Eingriff produziert, verleiten zur Projektion einer Narration. Jeder Schnitt zwischen zwei Einstellungen und jeder bildinterne, animationstechnische Eingriff ist der Kern einer Erzählung, die sich entweder plausibel fortsetzt oder ins Unwahrscheinliche hineinbewegt. Welche Verbindung diese Bildsprache aber mit der im Film gesprochenen Sprache eingeht, ist eine für jeden Film neu herauszubildende Balance, ein Experiment.

Die Bemühungen diverser Firmen, durch das wiederholte Abfilmen und Streamen des irdischen Straßennetzes – wahlweise vermischt auch mit historischen Aufnahmen, also mit einer gewissen „Tiefenzeit“ –, alle Straßenansichten „demokratisch“ zugänglich zu machen, kranken wie viele Bildwelten im Netz an deren Ungestaltetheit. Die gestaltende Auswahl eines Bewußtseins hinter der Kamera ist nicht gegeben (und kann es in diesem „enzyklopädischen“ Projekt auch gar nicht sein). Vielmehr wird die Aufgabe, alles zu erfassen, an eine Maschine deligiert, die leidenschafts- und besinnungslos alles aufnimmt. Und sie vollstreckt ihre Aufgabe in einem rigiden und kurzgefaßten Gestaltungsrahmen: Totale, Fahrt, Rundumschwenk und sich in Pixeln verlierende Zoom-Möglichkeiten. Unsere Drehreisen befinden sich am anderen Ende des Spektrums der filmischen Möglichkeiten: Durchgestaltete, entschiedene Bilder, die ein Bewußtsein und die Anwesenheit eines menschlichen Gehirns hinter der Kamera wiederspiegeln, sollen ihr Ergebnis sein. Die Rechtfertigung unseres Projektes liegt in diesen poetisch konzentrierten Blicken, und nicht in einem irgendwie gearteten „enzyklopädischen“ Anspruch. 

Heinz Emigholz


Streetscapes [Dialogue] ist die filmische Manifestation eines Projekts, das in Deutschland und vor allem in Israel auf der Grundlage von drei intensiven Marathongesprächen zwischen den beiden Autoren des Films, Heinz Emigholz und mir, realisiert wurde. Wir trafen uns, um zu sprechen, und versuchten auf diese Weise, eine Blockade zu lösen, die ihn hatte verstummen lassen, die seine künstlerische Reise zum Stillstand gebracht hatte und sein (damaliges) Leben überschattete. Wir trafen uns, um zu arbeiten; nicht im Rahmen einer therapeutischen Sitzung – obwohl ich Psychologe und Traumaexperte bin –, sondern als zwei Menschen, die bereit sind, einen schweren Weg bis zu seinem Ende zu gehen.

In Streetscapes [Dialogue] geht es darum, dass jemand Zeugnis von einem Trauma ablegt und jemand anders ihm dabei zuhört. Alles begann damit, dass ich Heinz Emigholz zu einem Vortrag einlud, den ich im Rahmen einer Tagung zum Thema Zeugenschaft an der Freien Universität Berlin hielt. Ich sprach in dem Vortrag darüber, dass das Zeugnis traumatisierter Zeugen sich in ihrem Schweigen äußert. Anschließend unterhielten wir uns, und Emigholz erzählte mir von seiner Situation. Ich schlug vor, dass wir uns zu Gesprächen verabreden und über die Blockade und ihre Auslöser sprechen sollten. Ich hatte das Gefühl, dass Heinz gewissermaßen eine Aussage machen wollte, und dass ich sein Zeuge dabei sein sollte.

Zuerst musste sein Schweigen gehört werden, damit daraus ein Weg entstehen konnte. Er nahm den Vorschlag bereitwillig an. Ein paar Monate später begannen wir. Meine Rolle dabei war nicht die eines Psychotherapeuten, sondern die eines Menschen, der zum lebendigen Zeugen einer Aussage über Dinge wird, die unter bewussten Erinnerungen gut versteckt waren. Ich möchte betonen, dass das Ganze nichts von einer Therapie hatte. Die langen, intensiven Gespräche verwandelten sich in einen langen, kontinuierlichen Dialog im Sinne Martin Bubers, in ein Gespräch von Mensch zu Mensch, bei dem „das Zwischenmenschliche“ zum Mittel wird, durch das sinnstiftende Gegenseitigkeit, Zuwendung und Beherrschung und am allerwichtigsten: aufmerksames Zuhören zu den transformativen Faktoren für Wachstum wurden. Wir wurden beide Zeuge davon, wie das posttraumatische Zeugnis sich allmählich in posttraumatisches Wachstum verwandelte.

Die Idee, aus diesen Dialogen einen Film zu machen, war zugleich das Zeichen dafür, dass die Blockade sich auflöste und die Kreativität wieder in Fluss kam. Ich muss hinzufügen, dass unsere Bekanntschaft nicht auf die Tagung in Berlin zurückgeht, sondern auf unser gemeinsames Interesse an Architektur (wobei das Interesse von Heinz Emigholz sich vor allem auf die kinematografischen Aspekte von Architektur bezieht, meines dagegen auf die Beziehung zwischen Trauma und Architektur). Das Ansehen, das Heinz aufgrund seiner zahlreichen Dokumentar- und Spielfilme über Architekturthemen genießt, ist ein ganz eigenes Zeugnis. In Streetscapes [Dialogue] hat Emigholz das ‚Zwischenmenschliche‘ anhand von Architektur porträtiert und es zum dritten Protagonisten des Gesprächs gemacht. Dieser Aspekt, der während unserer Marathonbegegnungen nicht präsent war, war für uns ein weiteres Zeichen für die Rückkehr des Gesprochenen.

Zohar Rubinstein